1984 erreichte den Musikverein eine ehrenvolle Einladung zum Musikfest Wratislavia Cantans in Wroclaw/Breslau. Die Aufregung war groß zumal die Reise zusammen mit den Düsseldorfer Symphonikern stattfinden konnte und sollte. Das spektakuläre Konzertprogramm findet der Leser unter dem Datum des 6. und 7. September 1984.
Man beschloss Chor, Orchester und Gäste mit einem Sonderzug nach Wroclaw zu schaffen. Eine Hürde war die Durchreise durch die DDR. Hierfür gab es viele Vorschriften die z.B. lauteten:
- Bei Einreise muss eine Teilnehmerliste vorliegen.
- Die Liste muss die Nummern der Personalausweise und Pässe beinhalten.
- In der Liste müssen Name, Vorname und Geburtsdatum enthalten sein.
- Die Teilnehmer müssen bei der Kontrolle in der Reihenfolge der Liste in den Zugabteilen sitzen.
Gisela Kummert und ich waren für diesen Teil der niederschwelligen Organisation verantwortlich und regelten mit hohem Aufwand, damals noch ohne digitale Hilfe, dieses schwierige Problem. Dachten wir!
Auf dem Weg im Sonderzug von Düsseldorf bis Öbisfelde (Grenzübergang BRD-DDR) gab es ein lustiges Hin- und Her zwischen den Abteilen und eine sehr fröhliche Durchmischung von Symphonikern und Chor. Die Durchsage kurz vor Öbisfelde seine angestammten Plätze einzunehmen stieß nur auf wenig Verständnis, da man ja gerade so schön im Gespräch war. Als wir in den Bahnhof einfuhren verschlug es uns die Sprache: Auf dem Bahnsteig standen sicherlich ca. 50 DDR-Zöllner, die den Zug unverzüglich enterten. Die Leitung verlangte nach Gisala Kummert und Manfred Hill als eingetragene Reiseleitung, verlangte die Listen, ging ins erste Abteil und fand nur vier der sechs Leute vor, ging ins zweite Abteil und dort waren fünf von sechs Reisende auszumachen und auch noch in der falschen Reihenfolge im Vergleich zur Liste. Das führte zum Abbruch und zur Anordnung, dass unverzüglich für die ganze Reisegruppe Einzelvisa erteilt werden müssen. Wir lieferten alle Ausweise und der Zöllner schrieb an die dreihundert Einzelvisa auf einem Gerät vor seinem Bauch, welches er ausklappen und darauf dann die Visa ausfüllen konnte. Scherzhaft wollten wir ihm für Gisela Kummert, unsere sog. Herbergsmutter, dieses wunderbare Gerät abkaufen, was auf wenig Verständnis stieß. Als Schatzmeister zahlte ich die Visa mit DM 5,00 pro Person und bekam in Aussicht gestellt, dass wir das Geld bei der Rückreise wieder erstattet bekämen.
Die anderen Zöllner bauten in den Gängen der Zugwaggons die Decken aus um nachzusehen, ob in diesen Hohlräumen Passagiere eingeschmuggelt würden. Ich spreche von der Einreise in die DDR. Auf allen Gängen neben den Abteilen lagen große Flocken von Staub, die aus den Decken-Hohlräumen niederrieselten. Nach drei Stunden konnten wir weiterfahren und bekamen eine DDR-Lok vor den Zug gespannt. Nach kurzer Zeit der Weiterfahrt stellten wir fest, dass es doch ziemlich kalt wurde. Axelzuckend teilte man uns mit, dass die Lok für die Heizung nicht genügend Energie liefert und wir bis Breslau ohne Heizung fahren müssen.
An dieser Stelle kam Karl-Heinz Thelens Erfahrung zum Zug: Herr Thelen hatte, in weiser Voraussicht, 10 Kübel Suppe in Düsseldorf gebunkert und auch für entsprechende Mengen an Plastik-Suppenteller und Löffel gesorgt. Mit einem Rollwägelchen machen sich Bernhard Jahn und ich auf die Reise von Abteil zu Abteil und schenkten die Suppe aus. In der mehr als lustigen Stimmung hatten wir sozusagen an jedem Abteil einen Joke parat - beispielhaft: Ein Symphoniker fragt "Was ist das für eine Suppe", meine Antwort "Das ist eine passierte Erbsensuppe" - seine Frage "Was ist das denn?" - Meine Antwort: "An der nächsten Weiche ist es passiert" - und so geschah es dann auch.
Im Vorfeld der Reisevorbereitungen hatten wir uns überlegt, wie wir den Kindern in Wroclaw helfen könnten. Nahmen Kontakt mit dem Veranstalter auf und erfuhren, dass Medikamente und Süßigkeiten für Kinder denkbar knapp seien. Wir sammelten im Chor und über die Apotheke der Uni und unter fachlicher Beratung kauften wir eine unendliche Menge an Medikamenten, Schokolade und sonstigen Süßigkeiten. Das Problem: Wie führen wir das sozusagen "illegal" ein. Die Lösung: Jedes Chormitglied bekam für seinen Koffer eine Medikamenten/Schokoladen-Tüte.
Als ich Karl-Heinz Thelen vor der Abfahrt unser illegales Projekt mitteilte wurde er sofort aktiv und bewaffnete sich mit fünf Flaschen besten Wodkas mit der Bemerkung "Ich solle mir keine Sorgen machen". So fuhren wir verpflegt und mit warmer Suppe versorgt im kalten Zug nach Wroclaw. Kurz vor Wroclaw an der Grenze DDR-Polen stiegen polnische Zöllner in den Zug. Thelen nahm sie in Empfang und setze sie in unser "Reiseleiterabteil". Ab dann wurde bis Wroclaw Wodka getrunken und keine einzige Kontrolle durchgeführt. Die Zöllner und Karl-Heinz Thelen und Manfred Hill waren betrunken und die Medikamente und Schokoladen wohlbehalten in Polen angekommen. Auf dem Bahnhof luden wir alles von jedem Reisenden auf einen LKW, von dort aus in ein gemietetes Zimmer und am nächsten Morgen kam der Bischof und der Leiter des Kinderkrankenhauses und nahmen alle Geschenke mit großer Freude in Empfang.
Der Zug blieb die fünf Tage auf dem Bahnhof Wroclaw stehen. Als wir den Zug für die Rückfahrt wieder bestiegen mussten wir feststellen, dass sich im Zug keinerlei bewegliche Gegenstände mehr befanden. Vorhänge, Spiegel, Aschenbecher - alles war ausgebaut. Karl-Heinz Thelen spielte seinen letzten Trumpf aus: Mit dem Hotel hatte er vereinbart, dass die Suppenkübel dort gereinigt und für die Rückfahrt mit neuer Suppe bestückt wurde. So hatten wir auch für die Rückfahrt warme Suppe und glückliche Menschen sowieso.
So war das 1984!!!
Erinnerungen von Manfred Hill im Mai 2021
Bild: Chor und Orchester in der Magdalenenkirche in Wroclaw