Ganz sachlich betrachtet handelt es sich beim Chorpart der Gurre Lieder von Schönberg quantitativ nicht um eine große Herausforderung. Dennoch haben die Vielstimmigkeit und das Riesenorchester (gegen das es sich zu behaupten gilt) schon so manchen Sänger an den Rand der Verzweiflung gebracht. Auch haben nur wenige Städte überhaupt die logistische Möglichkeit, dieses Riesenepos so aufführen zu können, wie das die Absicht des Komponisten war, und in der Berliner Philharmonie im Jahre 1985 realisiert werden konnte. Das Unternehmen Gurre Lieder setzte sich zudem aus einer Konzert- und Schallplattenstudio-Komponente zusammen; die Konzerte in der Philharmonie wurden vom Sender Freies Berlin (SFB, heute RBB) live übertragen, während die Studioproduktion in der Jesus-Christus-Kirche Berlin-Dahlem unter Beteiligung des RIAS für das damals Weltgeltung habende Label DECCA stattfand. Die Gurre-Lieder wie auch die spätere Einspielung von Mahlers Das klagende Lied wurden zu Referenzaufnahmen innerhalb des internationalen Kataloges, was in beiden Fällen nicht nur für Riccardo Chailly und sein erstklassiges Orchester, sondern auch für den Chor des Städtischen Musikvereins eine hohe Auszeichnung bedeutete. Der bei den Gurre Liedern beteiligte, hoch angesehene Chor der St. Hedwigs-Kathedrale hat leider den späteren Weggang seines künstlerischen Leiters (1974 1991) Roland Bader, sowie die völlige Umstrukturierung des Berliner Kulturlebens nach der Wende 1990 künstlerisch schlecht überstanden. Die Fusion mit dem sich vorwiegend als Kirchenchor verstehenden, Ost-Berliner Domchor von St. Hedwig führte zu einer stark liturgisch ausgerichteten Arbeit, und so geriet dieser Chor, den einst Wilhelm Furtwängler bevorzugte, aus dem Fokus der bekannten Konzertchöre nahezu völlig hinaus.
Die vorliegende Aufzeichnung präsentiert in -3- Positionen andere Solisten, als sie später in der DECCA-Produktion zu finden sind: Heikki Siukola, Horst Hiestermann und Boris Carmeli. Den Schlusschor gab es übrigens in der von Schönberg beabsichtigten Tongewalt nur bei den Konzerten in der Philharmonie; er wurde wegen der gewaltigen Anzahl von Orchester- und Chormitgliedern für die DECCA in der Kirche im Playback-Verfahren aufgezeichnet, will sagen: der riesige Chor sang a-cappella und orientierte sich an den Anschlusstönen, die vorher vom Orchester aufgenommenen worden waren. Auch 1985 war die Rundfunk-Tontechnik noch nicht so weit, Schönbergs diffuses und hochdifferenziertes Klangspektrum durchhörbar abzubilden. So mag man manchmal den Eindruck haben, als würde besonders der Chor im Rausch der Töne untergehen; dennoch glauben wir, dass die vorliegende Dokumentation ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist, was sich seinerzeit viel umjubelt- in der Berliner Philharmonie abgespielt hat