Lebenslauf
Robert Schumann

Fortsetzung des vorangegangenen Eintrages:

"Als Schumann 1850 das Angebot erhält, als Musikdirektor nach Düsseldorf zu kommen, ist sein erstes Hauptprojekt die dort bis dahin niemals aufgeführte Johannespassion: „Mit dem Gesangverein zuerst zu studiren gedachte ich vielleicht die Johannes-Passion von Bach (die kleinere, aber nicht minder schöne)“, schreibt er drei Wochen vor seinem Umzug aus Dresden nach Düsseldorf an den Musikvereinsvorstand Joseph Euler.

Tatsächlich realisiert Schumann die Aufführung gleich in seiner ersten Düsseldorfer Saison, am 13. April 1851. Obwohl mit dem Palmsonntag ein liturgisch passender Tag gewählt wurde, erfolgte die Aufführung nicht in einer der katholischen Kirchen Düsseldorfs, sondern im Geisslerschen Saale, dem üblichen hölzernen Konzertgebäude vor den Toren der Stadt. Mit insgesamt sieben Solisten greift Schumann auf eine große Solistenbesetzung zurück, die nicht nur einzelne Sänger für Evangelist und Petrus, Jesus und Pilatus sondern auch gleich zwei Sopranistinnen bot. Da nur die erste Sopranarie gesungen wurde, diejenige im Schlussteil, „Zerfließe mein Herze“, wohl da Schumann weder Englischhorn noch Bassetthorn als Ersatz für Bachs Oboe da caccia zur Verfügung stand, aber ausblieb, fiel der zweiten Sängerin vermutlich nur der kurze Einwurf der Magd aus der Rezitativszene im Palast des Hohepriesters zu. Notizen in Schumanns Düsseldorfer Merkbuch (Robert-Schumann-Haus Zwickau) verraten überdies, dass Schumann einer weiteren Sopranistin ursprünglich auch die Tenorarien zugeteilt hatte, wohl in Ermangelung eines professionellen männlichen Sängers. Bei der Aufführung sang die Sängerin dann aus unbekannten Gründen aber doch nicht mit; vielleicht war das der Grund für den Ausfall des Tenor-Arioso „Mein Herz“ im Schlussteil.

In dem im Robert-Schumann-Haus Zwickau erhaltenen Textbuch der Düsseldorfer Aufführung fehlen gleich fünf Sätze der Bachschen Fassungen nach dem vom Tod Jesu berichtenden Evangelistenrezitativ „Und neigte das Haupt“ bis zum Choral „O Hilf Christe“. Dieser an die ausgefallenen Sätze anschließende Choral wurde laut eigenhändigem Vermerk in Schumanns Partitur (Robert-Schumann-Haus Zwickau) um einen Halbton tiefer gesetzt, vielleicht aufgrund der hohen Lage, vielleicht aber auch, um einen besseren tonartlichen Anschluss zu erreichen.

Auch das anspruchsvolle Evangelistenrezitativ „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriߓ fehlt im Textbuch. Eine Rezension in der Rheinischen Musik-Zeitung vom 24. Mai 1851 legt allerdings nahe, dass es doch erklungen sein könnte, und Schumann macht in seiner Partitur den ausdrücklichen Instrumentierungsvermerk „Mit Quartett“ – Schumann hatte sich also für eine vollstimmige Streicherbegleitung statt der bei den übrigen Rezitativen gewählten Begleitung mit Violoncello, Kontrabass und Klavier entschieden. Wohl vor allem aufgrund von Instrumentenproblemen blieb auch die Tenor-Arie „Erwäge/Mein Jesu, ach“ in Schumanns Düsseldorfer Aufführung aus. Noch heute wird bei Kirchenaufführungen, wenn keine Viole d’amore zur Verfügung stehen, häufig auf diesen Satz verzichtet.

Eine Woche vor der Aufführung, am 6. April, erhielt Schumann einen Brief des Kölner Bariton Joseph Schiffers, der neben der Jesus-Partie auch die Bass-Arien singen sollte. Nun erklärte er, dass er wegen der zu kurzfristigen Notenübersendung und wegen zu tiefer Lage der „Eilt, ihr angefochtenen Seelen“-Arie, diese Partie nicht übernehmen könne. So musste Schumann beide Bassarien mit Chor streichen, die er sonst wohl aufgeführt hätte. Zumindest hatte er die Arie „Eilt, ihr angefochtenen Seelen“ bereits in Dresden singen lassen, und offenbar auch schon in Düsseldorf geprobt. Das Bass-Arioso „Betrachte meine Seele“ wurde jedoch offenbar von Schiffer übernommen. Schumanns Partitur belegt, dass die originalen Viole d’amore durch mit Dämpfer spielende Violinen ersetzt wurden, die Lautenstimme durch gedoppelte Bratsche und Klarinette. Damit folgte Schumann einem Vorschlag des Leipziger Thomaskantors Moritz Hauptmann, von dem sich Schumann das Orchesterstimmenmaterial der Thomasschule erbeten hatte.

Schumann nahm offenbar irrtümlich an, dass es sich bei den von Hauptmann erhaltenen Stimmen um Bachs Originalstimmen handele, und korrigierte deshalb die damals einzige verfügbare Druckausgabe der Johannes-Passion nach diesen Leipziger Stimmen, deren genaue Herkunft heute nicht mehr feststellbar ist.

Auch für die Gambenpartie der Alt-Arie „Es ist vollbracht“, für die im 19. Jahrhundert kein adäquates Instrument mehr zur Verfügung stand, hatte Hauptmann einen Vorschlag gemacht, den Schumann jedoch nicht umsetzen konnte. Hauptmann hatte die Arie in Leipzig mit Englischhorn aufgeführt. Dieser in Frankreich entwickelte tiefe Oboentyp war im Rheinland offenbar nicht verfügbar. Schumann entschied sich für die auf jeden Fall sinnvollere Variante, bei einem Instrument der Streicherfamilie zu bleiben, und nahm eine Bratsche als Soloinstrument. Im schnellen Teil der Arie, wo Bachs Viola da gamba den Singstimmenpart nur verdoppelt, schweigt Schumanns Solobratsche, dafür komponiert Schumann als zusätzliche Stimmen zwei Trompetenpartien hinzu, die den triumphalen Charakter und die Fanfarenmotivik unterstützen. Zu Bachs Zeit freilich wäre Trompetenmitwirkung in der Passionszeit undenkbar gewesen. Der bei Bach von der Orgel ausgeführte Generalbass-Satz wird von Schumann auf einen dünnstimmigen Satz mit einer weiteren Bratsche und Violoncello übertragen. Weitere erhaltene Zusatzstimmen Schumanns zeigen, daß er in den ersten Arien des Werks, die Generalbassbegleitung auf Klarinetten übertrug, dies sowohl in der Oboensolo-Arie „Von den Stricken“ als auch in der Flötensolo-Arie „Ich folge dir gleichfalls“. In der anschließenden Tenor-Arie mit Streichern zieht Schumann neben zwei Klarinetten auch Oboen und Fagotte heran.
Thomas Synofzik"

Quelle: Aus dem Booklet der CD cpo 777 091-2 (c)2007

Bild und Kurzbiographie: Thomas Synofzik, * 1966, Studium der Kirchenmusik, Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie sowie historischer Tasteninstrumente. Neben Konzerttätigkeit, CD- und Rundfunkproduktionen wirkte er als Dozent an verschiedenen Hochschulen und war freier Mitarbeiter bei mehreren Rundfunkanstalten. Buchpublikationen zum Schumann-Brahms-Kreis, der Musik des frühen 17. Jahrhunderts sowie Aufführungspraxis und Interpretationsforschung. In Editionen und Forschungsbeiträgen widmete er sich darüber hinaus dem Umfeld Johann Sebastian Bachs. Seit 2005 ist er Direktor des Robert-Schumann-Hauses in Zwickau. Gemeinsam mit Michael Heinemann ist er Leiter der Schumann-Briefedition.