Obwohl wir grundsätzlich keine Werkanalysen den Aufnahmen des Schallarchivs beifügen, soll doch in diesem Fall etwas zu Mozarts KV 427 gesagt werden:
Man könnte die Große Messe gut und gerne als ewige Baustelle bezeichnen, denn im Gegensatz zum Requiem gab es keinen äußerlich ersichtlichen Grund, warum der Komponist sein bei weitem ausladendstes kirchenmusikalisches Werk als Fragment hinterließ. Wie Ernst von Marschall sehr eindrucksvoll in seinem Programmheft-Beitrag zum Mas Conde Konzert von 1999 nachweist, war Mozarts Verhältnis zu seinem Vater (Cover, rechtes Bild: Leopold Mozart) zwar eng, keinesfalls aber problemfrei. Schließlich war der Vater für seinen Sohn ja so etwas wie ein Impressario. Dass Mozart in Wien heiratete ohne den Vater vorher zu konsultieren darf man damit sehr wohl als Affront bezeichnen. Ähnlich verhielt es sich in seiner Beziehung um Staat und zur katholischen Kirche (kein sanctam catholicam ecclesiam im Credo), wurde doch 1781 eine Vorschrift erlassen, die groß angelegte Messkompositionen deutlich einschränkte. Hier können Gründe dafür liegen, warum Mozart von seinem Konzept, das seine Wurzeln bei Bachs h-moll-Messe hat und wegweisend zu Beethovens Missa solemnis erscheint, abließ und das Werk teilweise wieder verwarf bzw. als Torso nicht mehr anrührte. Diese ruhende Baustelle wurde dann auch bis sage und schreibe 1901(!) regelrecht vergessen. Erst 1901 verwirklichte der Mozartverein in Dresden unter der Leitung von Alois Schmitt eine erste (nachgewiesene) Aufführung -nach der von Mozart selber geleiteten Messe in St. Peter/Salzburg am 26.10.1783- mit Ergänzungen im Credo und Wiederholung des Kyrie als Agnus Dei. Weitere 50 Jahre sollte es dauern, bis der Städtische Musikverein in Düsseldorf erstmalig (6. + 7. 12. 1951) unter Heinrich Hollreiser mit der Großen Messe an die Öffentlichkeit trat. Michel Rühl leitete ein Konzert am 19. 1. 1956 und Jean Martinon zwei Aufführungen am 7. + 8. 1. 1965. Dazwischen lagen für den Chor des Musikvereins noch Gastauftritte anlässlich der Mozartfeste unter István Kertész 1960 in Düsseldorf und unter Bernhard Paumgartner 1961 in Augsburg/Dillingen. Erstaunlich, dass Bernhard Klee als weltweit anerkannter Mozart-Interpret diese Herausforderung nicht annahm. Wie unterschiedlich die Sichtweise auf Mozarts Absichtserklärung zu einer groß-dimensionierten Messkomposition sein kann belegen die beiden vorliegenden Mitschnitte unter David Shallon (1991) und Salvador Mas Conde (1999). Hier liegt auch der Grund für diese Doppelveröffentlichung. Shallon schließt nach dem Benedictus mit einer Spielzeit von ca. 53 Minuten, Mas Conde räumt dem Werk mehr als
1 Stunde und 10 Minuten Zeit ein. Shallons Lesart ist nachhaltig leichter, in Teilen fast beschwingt, während Mas Conde dem gesamten Stück quasi ein Grave mit auf den Weg gibt, wobei er durch die Wiederholung des Kyrie als Agnus Dei der Messe eine gewisse (Ab-) Geschlossenheit gönnt.
Beide Dirigenten wählten die revidierte Fassung von Franz Beyer aus dem Jahre 1989, wobei Shallon auf das Agnus Dei verzichtete, und der Messe im ersten Teil des Konzertes das Nocturne op. 60 von Benjamin Britten voranstellte. Auch das könnte man als Fingerzeig auf die ewige Baustelle KV 427 deuten.
Leider benachteiligen beide Mitschnitte aufnahmetechnisch den Chor, wobei das bei der Aufnahme aus dem Jahre 1999 auch für die Solisten gilt.
Die kurze Verzerrung ( 3. Achtel in Takt 10 des Sanctus der 99er-DAT-Fassung ) musste mangels Alternative- aus musikalischen Gründen so bleiben.
Bild 1: Salvador Mas Conde - Bild 2: David Shallon