Die Chronik des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf weist extreme und markante Schwankungen hinsichtlich seiner Präsenz im Düsseldorfer Konzertleben, seiner Tourneen und seiner Medienpräsenz auf. Hierbei zeigen sich Parallelen zum gesamtgesellschaftlich-wirtschaftlichen Umfeld. War die Entwicklung des Musikvereins nach dem zweiten Weltkrieg eine ständig aufwärts gerichtete, so ist nahezu simultan das „Wirtschaftswunder“ in der Bundesrepublik (alt) zu beobachten. Die Reputation eines deutschen Chores innerhalb des nachkriegs-Europa war schwierig, jedoch durch Leistung, durch Qualität, durch eine überspringende Begeisterung vermittelbar. Die Kontinuität innerhalb des Musikvereins (Vorstand, Chordirektion), und die dadurch hervorgerufene Stabilität bildeten ein Rückgrat, das Grundvoraussetzung für ein Chorleben war, wie wir es in der vorliegenden Chronik nachvollziehen können. Da der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf trotz seiner hoch-prominenten künstlerischen Partner immer noch ein „Laienchor“ war, ist und bleibt, gab es begleitende Auswirkungen durch die teilweise heftigen wirtschaftlichen Umbrüche auf den Chor. Die einzelnen Mitglieder hatten in ihrem beruflichen Umfeld Veränderungen hinzunehmen, die bei manchen bis in die Existenzbedrohung gingen: Wirtschaftskrisen, der Umbau von der Industriegesellschaft zur Dienstleistung, die Digitalisierung und der damit einhergehende strukturelle Wandel einer ganzen Volkswirtschaft. Fast zeitgleich war im europäischen Umland eine Entwicklung zu registrieren, die -zumindest anfänglich- dazu führte, dass örtliche Konzertchöre gegründet wurden, die die Verpflichtung eines auswärtigen Chores (mit all den damit verbundenen Kosten) erübrigen sollte. Das ist teilweise gelungen, teilweise aber auch nicht. Gleichwohl sind besonders in den BeNeLux-Staaten die Gastspiel-Aktivitäten des Musikvereins-Chores als so etwas wie einen "Impulsgeber" aufgenommen worden. Frankreich spielte hierbei eine herausgehobene Rolle. Fazit: Ein Vergleich der End-80er Jahre mit dem ersten Quartal des 21. Jahrhunderts zeigt, dass sich die für den Chor des Musikvereins so typisch gewordenen Auslandgastspiele mehr und mehr auf -1- (!) Konzert im 2-Jahresrhytmus beschränkten. Nach 2014 (Deutsches Requiem unter Andrey Boreyko in Brüssel) ist bis dato keine Konzertreise mehr zu verzeichnen (siehe Konzertchronik).
In der Heimat, in Düsseldorf, baute sich nach den turbulenten Nachkriegsjahren ein innerchorisches Problem auf: die Generationenfrage oder auch das Nachwuchsproblem. Gründe dafür waren vielfältig und waren sowohl in einer inneren wie äußeren Attraktivität zu suchen. Die innere Attraktivität lag für (potentielle) Sängerinnen und Sänger in der Beantwortung der Frage: „Was machen die denn?“; die äußere Attraktivität hatte mit „was machen die mit wem und wo?“ zu tun. Blickt man auf die Programme des Musikvereins-Chores im 21sten Jahrhundert, so richtete sich das Interesse vergleichsweise schnell in Richtung der Literatur, die einstudiert und aufgeführt werden soll. Für Veranstalter im In- und Ausland kommt ein Gesichtspunkt hinzu: geben solche Werke Anreiz dazu, ausgerechnet diesen Chor einzuladen (wohin und zu wem auch immer). Dazu muss man wissen, dass die Konstruktion bzw. Einbindung des Städtischen Musikvereins in das Konzertleben der Landeshauptstadt Düsseldorf und somit in die Symphoniekonzerte der Düsseldorfer Symphoniker deutschlandweit so gut wie einmalig sein dürfte. Der Musikverein hat -im Gegensatz zu den allermeisten Konzertchören Deutschlands- keine eigene Konzertreihe, keine eigenen Abonnenten, wenn man so will also kein "eigenes" Publikum. Diese Konstellation birgt insoweit eine Abhängigkeit in sich, als zwar die für eine Eigenständigkeit notwendige Infrastruktur wegfällt, der Chor jedoch sich dem Diktum der städtischen Konzertplanung alternativlos beugen muss. Nur so sind zahlreiche Programme der Jahre nach 2007 zu erklären. Die tradierte Übung, zwischen (General-)Musikdirektor und dem Chorleiter bzw. dem Chorvorstand einen langfristigen Konzertplan gemeinsam zu erarbeiten -und zwar im gegenseitigen Interessenausgleich- war zumindest in der bis dahin geübten Praxis nicht mehr Gegenstand der Vorstellung seitens der für den Chor wichtigen Tonhallen-Intendanz. Unzufriedenheiten auf beiden Seiten waren die Folge. Sicher ist eine derartige Entwicklung auch das Ergebnis eines ganz grundsätzlichen Missverständnisses: Wer in Düsseldorf bei der geschilderten Tradition und Sachlage die Position eines Intendanten der Tonhalle antritt, hat Verantwortung nicht nur für das Orchester, sondern eben auch für den Chor des Hauses. Und das ist der Städtische Musikverein zu Düsseldorf mit seiner außergewöhnlich langen Historie, auf der das konzertante Musikleben der Stadt letztendlich fußt.
Die geschilderten Umstände führten zusätzlich zu einem Altersproblem innerhalb des Chores, was umso deutlicher zu Tage trat, als es immer schwieriger wurde, junge Sängerinnen und Sänger für die Mitarbeit im Chor zu begeistern. Selbst wenn eine Motivation bei dem einen oder anderen im Grundsatz durchaus vorhanden war, stellten Werkauswahl und die teilweise sich prekär entwickelnden privaten beruflichen Umstände hohe, vielfach zu hohe Hürden auf. Sage niemand, dass sich das dann nicht auch auf die künstlerische Qualität des Chores auswirken musste.
Eine geradezu entgegengesetzte Entwicklung nahm das Edukation-Projekt des Städtischen Musikvereins. Der damalige Vorsitzende Manfred Hill rief mit der „SingPause Düsseldorf“ ein Instrument ins Leben, das sich mit seiner Ausrichtung auf die Grundschulkinder fast aller Düsseldorfer Schulen seit 2006 hin zu einer Institution entwickelt hat, die heute (2021) in zahlreichen anderen Städten Nachfolgeprojekte hervorgerufen hat. Vielfach ausgezeichnet sucht das Projekt „SingPause“ seinesgleichen, fast möchte man sagen europaweit: www.singpause.de
Das Schlimmste, was überhaupt hätte passieren können, war ein absolutes „Singverbot“. Warum?
2019 befiel die Welt das Covid-19 Virus. Von China sich in der Zeit grenzenloser Mobilität rasend schnell ausbreitend führte diese lebensgefährliche Pandemie nahezu weltweit zu einem mehr oder weniger vollständigen „Lockdown“ des öffentlichen Lebens. Allein in Deutschland waren Mitte des Jahres 2021 über 90.000 Todesfälle bei mehr als 3,8 Mio. Infektionen zu beklagen. Betroffen durch die Schutzmaßnahmen von Bund und Länder waren Industrie, Handel, Kultur, die gesamte Wirtschaft einschließlich der Schulen, Universitäten, Tourismus, Einzelhandel, und, und, und im In- und Ausland. Da das Virus und auch die im Laufe der Zeit sich entwickelnden hochgefährlichen Mutanten von Mensch zu Mensch via Aerosole verbreitet wurde, war jegliche Ansammlung von Personen geradezu eine Lebensgefahr. Kurz: Über Deutschland und die Welt kam eine Naturkatastrophe wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Selbst die erstaunlich schnell (!) entwickelten Impfstoffe konnten schon wegen der logistischen Problematik weder in Deutschland, noch in Europa geschweige weltweit zu einer Situation führen, die den Menschen ein „normales Leben“ hätte ermöglichen können. Die Folge war, dass z.B. das Konzertleben völlig zusammenbrach. Alle Orchester weltweit mussten aufhören zu proben und zu spielen. Kein Chor konnte mehr musizieren. Die Theater, Opernhäuser und Konzertsäle wurden geschlossen; so auch die Tonhalle Düsseldorf. Für den Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf stand zunächst die Zeit still.
Das geschah alles ausgerechnet in einer Zeit, wo -lange vorbereitet- sowohl die künstlerische Leitung, als auch der Vorstand durch Neuwahlen und Neubesetzung sich einen so notwendigen Neuanfang vorgenommen hatten. Professor Dennis Hansel-Dinar und der Vorsitzende Stefan Schwartze sahen sich einem Chor gegenüber, der nicht singen durfte. Die Auflösung einer derart absurden Situation war zum Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben wurden, noch in keiner Weise absehbar, auch wenn man „vorsichtig“ für Oktober 2021 mit Aufführungen und einer CD-Einspielung des Oratoriums „Saul“ von Ferdinand Hiller liebäugelt. Aufwändigste „Einzelproben“ via Internet wurden kreiert. Eine "Hilfskonstruktion", die mit Chorgesang herzlich wenig zu tun hatte, jedoch -wieder typisch für den Musikverein- versuchte, die "verschworene Gemeinschaft Musikverein" zumindest virtuell irgendwie zusammenzuhalten.
Was bleibt aus diesen 2 Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts? Über das Jubiläumsjahr 2018 ist an anderer Stelle bereits ausführlich gesprochen worden. Auch darüber, dass so manches hätte anders kommen sollen. Entscheidend und zukunftsorientiert wurde der Wechsel an der Spitze der Düsseldorfer Symphoniker. Auch für den Konzertchor war die Berufung von Adam Fischer bedeutsam, kam doch mit Adam Fischer wieder einmal eine Persönlichkeit, die einen großen internationalen Ruf nach Düsseldorf gebracht hatte. Seine Einspielungen der Symphonien von Gustav Mahler fanden überregional hohe und höchste Anerkennung und waren damit auch eine Auszeichnung für unser Orchester. Der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf war an allen drei "Vokalsinfonien" erfolgreich beteiligt (OPUS Klassik / vormals Echo Klassik). Die Welt-Ersteinspielung des "Saul" von F. Hiller wäre ein weiterer markanter Punkt in der Medienpräsenz des Städtischen Musikvereins...
Stand heute (2021) weiß niemand, wie es weitergeht! Die existenziellen Probleme des Chores als Ganzes und auch seiner einzelnen Mitglieder sind so groß wie wohl seit 1943 nicht mehr (siehe Chronik). Wie heißt es so schön passend im Te Deum?: „In te Domine speravi!“
Gedanken von Rainer Großimlinghaus am 21.6.2021
Bild: Banner an der Tonhalle Düsseldorf anlässlich des Festkonzertes zum 200. Jubiläum des Städtischen Musikvereins im Jahre 2018. Auch ein Hinweis auf die Uraufführung von Mendelssohns "Paulus" im Jahre 1836, und damit ein Beleg für die Wiege des romantischen Oratoriums, die mit Hilfe Mendelssohns und des Städtischen Musikvereins in Düsseldorf steht.