Lebenslauf
Vereinsleben: Bewegte Zeiten – DDR-Tournee – Vermischtes und Organisatorisches

1989 war ein bewegtes Jahr für den Städtischen Musikverein, aber auch und vor allem für die Entwicklung der Weltgeschichte.

Der Musikverein krönte eine mehr als 10-jährige Vorbereitungs- und Planungsgeschichte im Mai 1989 mit der größten Künstlertournee, die jemals in der DDR stattfand und die Welt erlebte das epochale Ereignis des Mauerfalls am 9. November 1989.

Der Fall der Mauer und das Ende des Kalten Krieges sind geschichtliche Ereignisse von erstem Rang und haben unsere Welt nachhaltig verändert. Die beiden deutschen Staaten DDR und BRD fanden sich zur Wiedervereinigung zusammen. Ein Glückstaumel überströmte die Menschen hier wie dort und die Welt hielt den Atem an. Glücklich muss man über dieses Ereignis auch heute noch sein, auch wenn die Zusammenführung zweier Staaten unterschiedlicher Gesellschaftssysteme naturgemäß zu vielen schweren Verwerfungen geführt hat ist festzustellen, dass die Zusammenführung der Menschen und Familien in Ost und West als ein großes Glück bezeichnet werden muss.

In diesem bedeutungsvollen Jahr mit der DDR-Tournee trat der Musikverein am 9. November 1989 in Amsterdams Royal Concertgebouw auf und sang dort unter Neeme Järvi die „Grande Messe des Morts“ von Hector Berlioz. Während des Konzertablaufes fand das weltgeschichtliche Ereignis statt (siehe hierzu den Eintrag vom 9.11.1989).

An dieser Stelle möchte ich jedoch über organisatorische Dinge bei der DDR-Tournee berichten. Rainer Großimlinghaus hatte die Reise 1978 beginnend geplant und verhandelt (siehe hierzu seine Erinnerungen aus dem Jahre 1978). Im Mai 1989 wurde dann alles Realität.

In die Vorplanungen und Verhandlungen war ich als Schatzmeister des Musikvereins eingebunden, da ich sehr intensiv im Vorstand mitarbeitete aber auch noch aus einem anderen Grund: Die Künstleragentur der DDR mit ihrem Leiter Prof. Falck kommunizierte in den langen Verhandlungsjahren hauptsächlich über Telex. In meiner Firma stand eine solche Telex-Maschine. Kunibert Jung und Rainer Großimlinghaus schrieben viele Briefe und alle Antworten kamen dann bei mir der Firma per Telex an. Ich nahm diese Antwort-Telexe und übergab sie an die „Briefschreiber“. So entstanden ca. 130 m Telex-Antworten aus Ost-Berlin mit dem Effekt, dass sich sozusagen keine briefliche Dokumentation der Künstleragentur in unserem Archiv befindet.

Als wir uns mit der riesigen Reisegruppe (477 Teilnehmerinnen und Teilnehmer) dann in Ost-Berlin befanden wurden alle Pässe und Ausweise eingesammelt und Einzelvisa für jede Person geschrieben. Ausländische Reiseteilnehmer, die mit mehr als fünf Personen aus einem Land einreisten, wurden zur separaten Reisegruppe erklärt und auch so behandelt.

Von der Künstleragentur der DDR wurden uns drei sehr freundliche Damen an die Seite gestellt, die uns, die wir mit der Organisation betreut waren, für jede Frage und jedes Problem zur Verfügung standen.

Im künstlerischen Bereich waren Kunibert Jung und Rainer Großimlinghaus für den Musikverein zuständig, Elisabeth von Leliwa für die Düsseldorfer Symphoniker und Rudolf Meyer für die Wuppertaler Kurrende.

Im Bereich der Reiseorganisation waren Gisela Kummert und ich für die komplette Reisegruppe zuständig. Wir waren also die Verwalter der 477 Pässe und Visa, die sich alle in einem Koffer befanden. Wir kümmerten uns um die Busse und die Zimmerverteilung und um alle Sorgen und Nöten die von irgendjemanden geäußert wurden.

Gab es ein Problem, waren es die freundlichen Damen, die das Problem in allen Fällen einer Lösung zuführen konnten.

Für die Verpflegung und Betreuung der Reisegruppe war in jeder Konzertstadt ein international tätiges DDR-Unternehmen zuständig. In Dresden war dies z.B. die Firma ROBOTRON, die im Speisesaal jeden Sitzplatz zur ersten Essensaufnahme mit fünf frankierten Ansichtskarten von Dresden bestückte.

Angesichts der im Mai 1989 deutlich sichtbaren Verhältnisse in der DDR waren wir alle mehr als überrascht, welches Füllhorn von Speisen und Getränke der Veranstalter in jeder Stadt für die Reisegruppe präsentierte. Das Angebot lies keinerlei Wünsche offen und wurde von vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufgrund des so deutlich sichtbaren Mangels in der DDR-Wirklichkeit als fast beschämend empfunden.

Die Erlebnisse mit den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern waren durchgängig berührend und von enormer Freundlichkeit getragen. Allüberall gab es unendlich viel Entgegenkommen und eine große Gastfreundschaft. So konnten wir, sozusagen aus dem Stand, für die Knaben der Wuppertaler Kurrende ein Konzert im Gewandhaus am Nachmittag organisieren. Das Konzert sprach sich rum über Mund-zu-Mund-Propaganda und war wie durch ein Wunder ausverkauft. Die Knaben der Kurrende hatten vorher die Thomaner kennengelernt und gingen, auch mit diesem Hintergrund, mit zitternden Knieen auf die Bühne des Gewandhauses. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, dass ich sozusagen jedem der jungen Sänger beim reihenweisen Auftritt irgendein aufmunterndes Signal gab. Das Konzert wurde ein umjubelter Erfolg, den die jungen Menschen sicher nie vergessen werden.

Die drei Damen waren sehr hilfsbereit, aber auch ideologisch geprägt. Hierzu ein Beispiel: Als wir voller Euphorie nach der Aufführung der 2. Symphonie von Felix Mendelssohn Bartholdy vom Podium des Konzerthauses Berlin am Gendarmenmarkt kamen sprach mich eine der Damen, mit denen ich ja nun schon viel gemeinsame Arbeit bewältigt hatte, an und stellte fest „Das Programm ist aber nicht gut ausgesucht“. Ich frug nach dem Warum und sie sagte, dass ihr im Text der Satz „Die Nacht ist vergangen…“ als Provokation gegen ihren Staat vorkommt. Wir führten lange Gespräche am Abend um diesen Eindruck zu verwischen. Rainer Großimlinghaus erlebte ähnliches, wie aus seinem Erinnerungsbericht vom letzten Tag der Reise zu entnehmen ist.

Vor dem letzten Konzert in Leipzig stellten wir fest, dass die Einzelvisa vom DDR-Zöllner bei der Einreise ein falsches Ausreisedatum enthielten. Großer Schreck und große Frage „Was nun“. Die Damen sorgten für die Lösung: Es wurde ein großes schwarzes Auto, Marke Moskwitsch, organisiert. Dieses brachte mich, mit Staatskarossen-Gefühl und mit dem Pässe- und Visa-Koffer, von Leipzig nach Ost-Berlin. Dort wurde alles umgestempelt und um einen Tag verlängert. Dann gings wieder zurück nach Leipzig. Gerade rechtzeitig konnte ich mich umziehen und am Konzert teilnehmen. Die reguläre Ausreise für den nächsten Tag war gesichert.

Das Wetter bei der Reise war durchgängig grandios aber auch sehr heiß. Die große Hitze wurde uns im Hotel in Leipzig fast zum Verhängnis. Das Hotel, gegenüber des Hauptbahnhofs, hatte nur Einzelzimmer und die lagen zu 95 % zur Rückfront des Hotels. Gisela Kummert und ich erlebten für die vielen Menschen eine komplizierte Zimmerverteilung, die sich wetterbedingt zum kleinen Chaos entwickelte. Die Menschen gingen in ihr zugeteiltes Zimmer und fanden „saunaähnliche“ Zustände vor. Auf die Zimmer schien unbarmherzig eine mörderisch heiße Sonne, die weder vor dem einfachen Fensterglas noch vor den dünnen Vorhängen halt machte. Unentwegt kamen Bewohner dieser Zimmer zu uns und wollten ein anderes Zimmer haben mit der Maßgabe, dass man sonst kein gutes Konzert wird singen können. Hier hatten auch die drei Damen keine Lösung. Lediglich die Solisten konnten wir umquartieren. Trotzdem wurde mit dem Konzert alles gut und die etwas milderen Nacht-Temperaturen führten zu legendären Zimmerpartys in totaler Euphorie am Ende der Reise.

Schreck für unseren Chordirektor unmittelbar vor Abfahrt des Zuges in Leipzig: Prof. Hartmut Schmidt vermisste seine Chortasche mit allen Papieren, Noten und Terminkalender. Wir schwärmten aus in diesem riesigen Bahnhof und fanden die Tasche am Rande eines der Haupteingänge auf der Erde stehen. Hartmut Schmidt war glücklich und es konnte die Heimfahrt angetreten werden. Die DDR-Reichsbahn brachte uns nach Düsseldorf und die Bahnhofsverwaltung verabschiedete sich mit einer schönen Durchsage. Die Düsseldorfer Symphoniker bliesen zum Abschied den „Siegfried-Ruf“ in die grandiose Akustik des leeren Bahnhofes (siehe Bild).

Erinnerungen von Manfred Hill im Mai 2021