Lebenslauf
49. Niederrheinisches Musikfest 1872: Anton Rubinstein und Leopold Auer

KLAUS WOLFGANG NIEMÖLLER (Köln)

Zur musikkulturellen Verbindung zwischen St. Petersburg, Wien, Düsseldorf und New York. Der Musikverein in Düsseldorf präsentiert 1872 auf seinem 49. Niederrheinischen Musikfest zwei Musiker-Berühmtheiten aus St. Petersburg: Anton Rubinstein (Bild) und Leopold Auer.

Wiederentdeckte musikhistorische Dokumente ermöglichen es, interessante Einblicke in die Musikwelten der Zeit zu gewinnen. Kompositionen im Notenarchiv des Musikvereins Düsseldorf und das Programm-Heft des dortigen Musikfestes 1872, beides zentral mit dem Namen Anton Rubinstein verbunden, ermöglichen gerade in der Kombination der Dokumente, neue Sichten zu gewinnen und nun auch darzustellen. Signifikant für diese russisch-deutschen Musikbeziehungen ist, dass der in Berlin kompositorisch ausgebildete russische Musiker 1854 seine erste Anstellung in St. Petersburg bei der Großfürstin Elena fand, die eine geborene Prinzessin von Württemberg war.[1] Der 1829 in Moldawien geborene Anton Rubinstein hatte die Sprache von seiner Mutter mit deutscher Herkunft erlernt. Seine spätere Klage „Den Russen bin ich ein Deutscher, den Deutschen ein Russe“ beleuchtet die schwierige Frage nach der nationalen Identität.[2] Auf der anderen Seite wurde die Mitwirkung von Anton Rubinstein als Komponist, Dirigent und Pianist auf dem Niederrheinischen Musikfest 1872 in der Geschichte des Düsseldorfer Musikvereins nicht als ein Ereignis mit außergewöhnlichem Umständen wahrgenommen.[3] Schließlich war es schon das 49. Musikfest des Niederrheinischen Musikvereins, der seit 1818 abwechselnd in den Mitgliedsstädten Düsseldorf, Aachen und Köln diese Musikfeste veranstaltete, deren Konzerte zahlreiche Zuhörer nicht nur aus dem Rheinland anzogen. Aus Düsseldorfer Sicht war der eigentliche Festdirigent des dreitägigen Musikfestes vom 19. bis 21. Mai der seit 1850 amtierende Städtische Musikdirektor Julius Tausch.[4] Die Einladung von Rubinstein ist auf seine Anregung im vorbereitenden Comité zurückzuführen. Die Namen seiner 18 Mitglieder spiegeln die Bedeutung wieder, die dem Musikfest beigemessen wurde. Dem Comité gehörten neben dem Kgl. Musikdirektor Tausch von Oberbürgermeister Ludwig Hammers angefangen hochrangige Vertreter der Stadt und angesehene Persönlichkeiten wie die Maler Andreas Achenbach und Theodor Hildebrand, Professoren der Kunstakademie, an, natürlich der Vorsitzende des Musikvereins Justizrat Eberhard Hertz, der selbst in den Violinen des Musikfest-Orchesters mitspielte, wie dem namentlichen Verzeichnis aller 812 Mitwirkenden im Programm-Heft zu entnehmen ist

Da in den Oratorien, die seit J. Haydns „Schöpfung“ und den biblischen Oratorien von G. Fr. Händel das Hauptwerk der Musikfeste an den Pfingstfeiertagen darstellten, meistens die Chorstücke besondere Aufmerksamkeit fanden, unternahm es der Verfasser 2011, die dramaturgische Position der Arien im Oratorium „Das verlorene Paradies“ von Anton Rubinstein zu untersuchen.[5] Der Klavierauszug sowie 263 Chor- und Solostimmen befinden sich im historischen Notenbestand des Düsseldorfer Musikvereins, der im Heinrich-Heine Institut Düsseldorf archiviert ist.[6] Das Oratorium erschien 1860 im Musikverlag von Bartholf Senff in Leipzig. Der 1847 gegründete und etwa durch Kompositionen von Robert Schumann renommierte Verlag gab viele Werke Rubinsteins im Druck heraus, drei allein im Jahr 1860. Senff konnte ihr Erscheinen in seiner 1843 gegründeten Zeitschrift „Signale für die Musikalische Welt“ anzeigen und dadurch für ihre Verbreitung sorgen. Das Oratorium „Das verlorene Paradies“ hatte 1858 der Hofkapellmeister Franz Liszt in Weimar uraufgeführt. Seitdem galt Rubinstein als Anhänger der „neudeutschen Schule“. Um seine Idee einer neuen Gattung zu demonstrieren, deklarierte Rubinstein später das Oratorium mit geringfügigen Veränderungen gattungsmäßig als „Geistliche Oper“ um. Seine Geistliche Oper „Der Thurm zu Babel“, dirigiert vom Komponisten, stand nun 1872 als zentrales Werk auf dem Programm des Düsseldorfer Musikfestes.[7] Es war am 9. Februar 1870 in Königsberg uraufgeführt worden. Der noch im selben Jahr erfolgte Druck als op. 80 durch Senff ist „Herrn Dr. Fr. Zander in Königsberg“ gewidmet. Friedrich Zander war Gymnasiallehrer am Friedrich-Kollegium und Obervorsteher der Musikalischen Akademie. In seiner Wohnung hing ein großes Bild Anton Rubinsteins mit der Widmung „Herrn Dr. Friedrich Zander, dem Manne, dem Königsberg verdankt eine musikalische Stadt zu sein“.[8]

Als nun kürzlich in der Bibliothek des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Köln das Programm-Heft „49. Niederrheinisches Musik-Fest zu Düsseldorf. Pfingsten. 19., 20. und 21. Mai 1872" in das Blickfeld geriet, verweist die handschriftliche Notiz, wonach der Besitzer als Rezensent des Musikfestes erstmals für die gerade gegründete „Kölnische Tageszeitung“ tätig war, in die hier darzustellenden Vernetzungen. Die Rezension „Das 49. Niederrheinische Musikfest in Düsseldorf“ in der Zeitschrift „Signale“ von Senff, trägt nämlich den Untertitel „(Nach dem Bericht der „Kölnischen Zeitung“)“.[9] Überraschenderweise stellte sich heraus; dass auch die Besprechung in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ vom selben namentlich nicht benannten Verfasser stammt,[10] obwohl unterschiedliche Aspekte des Musikfestes in den Mittelpunkt gerückt sind: in der NZfM die Bedeutung der Chöre bei sechs größeren Chorwerken, in den „Signalen“ die Begeisterung über Rubinstein von den ersten Ovationen bis zum Lorbeerkranz. Allein der noch zu zitierende Bericht über die anfangs gespaltene Rezeption der Geistlichen Oper „Der Thurm zu Babel“ ist im Wortlaut beider Zeitschriften identisch. Realitätsnah beginnt der Bericht in der NZfM: „Ueber dem diesjährigen Musikfest schwebt ein entschieden ungünstiges Vermächtniß. Zuerst kam die Absage des erkrankten [Concertsängers August] Ruff [aus Mainz], sodann eine Fußverstauchung [Leopold] Auers und hierzu die weinerliche Laune des Himmels sowie eine ganz unverschämte Steigerung der Mieth- und Lebensmittelpreise. Dieses ließ sich aber die Freude an dem gebotenen Schönen dadurch durchaus nicht nehmen.“ Als das Comité für das Musikfest das Programm plante, bangte man angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges, das den Kölner Musikdirektor Ferdinand Hiller bei seinem Musikfest 1871 zu einer Umgestaltung als „Feier des Friedens“ veranlasste,[11] um ein ausreichendes Publikum und beschloss, herausragende internationale Berühmtheiten einzuladen. Galt es doch, die 1866 fertig erbaute große „Städtische Tonhalle“, die im Parkett 1.309 und auf der Galerie 500 Sitzplätze hatte, mit Publikum zu füllen.[12] Die Angabe des Programm-Heftes „unter Leitung des Herrn Anton Rubinstein aus Wien“ mag auch 1872 die Frage nach seiner dortigen beruflichen Position aufgeworfen haben. Sie beantwortete für die Leser der „Signale“ der Bericht über das Abschiedsbankett für Rubinstein am 30. April im kleinen Saal des Gebäudes der Musikfreunde durch den Vorstand vom Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde.[13] Damit ehrte sie den 1870 als „artistischen Direktor“ berufenen Rubinstein. Das Gebäude der Musikfreunde mit dem prächtigen Konzertsaal war erst in diesem Jahr eingeweiht worden. Bereits am 20. Februar 1870 spielte unter dem Hofkapellmeister Johann Herbeck Rubinstein in seiner „Fantasie für Klavier und Orchester“ den Solopart „und stellte sich unmittelbar nachher ans Pult, von wo er die Aufführung seiner Geistlichen Oper „Der Turmbau zu Babel“ dirigierte“.[14] Es folgte unter Joseph Hellmesberger, Direktor des Konservatoriums, am 22. März 1871 „Ruskaja i Trepak“, Sieben Nationaltänze für Klavier op. 82. In der Saison 1871 / 1872 übernahm Rubinstein selbst das Dirigat. Am 31. Dezember 1871 brachte er in Anwesenheit von Liszt den I. Teil seines Oratoriums „Christus“ (Weihnachtsoratorium) zur Uraufführung, das vollendete Werk fand erst am 29. März 1873 in Weimar seine Uraufführung.[15] Am 26. März 1872 stand schließlich noch „Das verlorene Paradies“ auf Rubinsteins Konzertprogramm. Er hatte bereits am 10. November 1871 den Vorstand der Gesellschaft um Urlaub für den Mai 1872 gebeten, in dem er das Düsseldorfer Musikfest leiten sollte, „und machte zugleich die Eröffnung, daß er wegen eines mit Amerika geschlossenen Vertrages seine Beziehungen zur Gesellschaft mit Schluß der Saison lösen müsse“.[16] Das Düsseldorfer Comité hatte also bereits im Spätherbst 1871 Rubinstein zum Musikfest eingeladen, der seinerseits damals schon die anschließende Konzerttournee in Amerika fest geplant hatte. Rubinsteins Nachfolger wurde ab November Johannes Brahms, der am 8. Dezember 1872 sein „Triumphlied“ op. 53 im Musikverein erstaufführte, für dessen Orgelpart er den Orgelvirtuosen Samuel de Lange aus Rotterdam verpflichtete.[17]

Der ausführliche Bericht über den letzten Übungsabend von Rubinstein im Singverein in den „Signalen“ beginnt: „Geübt wurde an dem Abend so eigentlich nicht, wohl aber musicirt und das teilweise in interessanter Weise.“ Rubinsteins Zyklus von Liedern und Gesängen aus „Wilhelm Meister“ von Goethe war schon tags zuvor aus dem Manuskript im Hauskonzert des Moral-Theologen Prof. Dr. Karl Krückl aufgeführt worden, der selbst solistisch sang, begleitete von Rubinstein am Klavier. An diesen Zyklus schloss sich „das „Requiem für Mignon“ für Soloquartett, „gemischten und Knabenchor mit Clavier- und Harmoniumbegleitung“ an, das „a [prima] vista“ gelesen wurde. Beide Werke wurden noch 1872 zusammen als op. 91 von Senff gedruckt. Die Widmung „Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Großfürstin Alexandra von Rußland“ von Kompositionen mit deutschsprachigem Gesangstexten ist nur auf den ersten Blick verwunderlich, denn die Großfürstin war eine geborene Prinzessin von Sachsen-Altenburg, selbst musikalisch gebildet. Das Musikinteresse teilte Großfürst Konstantin mit ihr. Durch die Widmung erinnert Rubinstein an sein Musizieren im prächtigen „Marmor-Palast“, heute Russisches Museum, in seiner Zeit als Direktor des St. Petersburger Konservatoriums bis 1867. In seinen jüngst untersuchten Tagebüchern schwärmt Konstantin etwa über den Vortrag von Beethovens Violin-Sonaten durch Rubinstein und Henryk Wieniawski, 1. Solist des Hoforchesters.[18] Rubinstein hielt durch die Widmung auch unmittelbaren Kontakt zu seiner hochfürstlichen Gönnerin, denn Widmungen an hochgestellte Adelige bedurften der vorherigen Genehmigung durch diese; zu leicht könnten sich sonst unbedeutende Musiker in fürstlichem Glanz sonnen. Auf Wien bezogen ist die Bezeichnung „Phisharmonium“, eine Weiterentwicklung der „Physharmonika“.[19] Dem Zusammenspiel von zwei Tasteninstrumenten, eines mit Zungenpfeifen, eines mit Saiten in der Begleitung, gewann Rubinstein ungewöhnlich neuartige Klanggestaltungen ab, die einer näheren Untersuchung wert sind[20] Zwar war das Harmonium als Konzertinstrument in Europa durchaus verbreitet, in den Werktiteln jedoch wie z.B. bei Franz Liszt meist als Alternative zur Orgel.[21] Nachdem Rubinstein zum „würdigen Abschied“ die f-Moll - Sonate von Beethoven gespielt hatte, hielt der Vorsitzende des Singvereins Dr. Raindl eine Dankesrede, in der er „die Versicherung der Unvergesslichkeit ausdrückte“. Der Advokat Dr. Victor Ritter von Raindl war seit 1869 Vorsitzender des Singvereins. Als Mitglied im Direktorium der Gesellschaft der Musikfreunde war er an der Berufung von Rubinstein nach Wien beteiligt.[22] Im Anschluss daran gab der Singverein dann für Rubinstein ein „Abschiedsbankett“. Rubinstein dankte, indem er Porträt-Photos des Photographen Fritz Luckardt verteilte, der sich auf Künstlerporträts spezialisiert hatte.[23] Am nächsten Tag überreichten ihm noch die Damen des Singvereins eine prachtvolle, mit seinem Monogramm versehene und gefüllte  „Ledercassette für Zigarren“. So waren jedenfalls die Leser der Zeitschrift „Die Signale“ auf Rubinsteins Mitwirkung beim Musikfest in Düsseldorf vorbereitet.

Am 1. Tag huldigte das Konzert in Fortsetzung einer längeren Tradition den beiden großen Barockmeistern mit der Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ (BWV 21) von J. S. Bach und der Cäcilien-Ode (HWV 76) von G. Fr. Händel.[24] In der Arie Nr. 9 „Doch o!, wer preiset dich und singt dein würdiges Lob , du heil’ger Orgelklang“ mit langer Einleitung der „obligaten Orgel“ kam auch das erst 1869 in die Tonhalle eingebaute große Instrument zur Geltung. Die Mitwirkung des Organisten „Herr Musik-Direktor Knappe aus Solingen“ wird eigens nach den Gesangssolisten benannt. Orgelinstrumente waren für Rubinstein durchaus von speziellem Interesse. Am St. Petersburger Konservatorium gab es auch eine Orgelklasse, die ihre Übungsstunden auf der Orgel der evangelisch lutherischen St. Petri-Kirche abhielten, die 1839 / 1840 die Fa. Walcker in Ludwigsburg (Werk 31) erbaut hatte, denn der orthodoxe Gottesdienst schloss die Orgel aus.[25] Als Chordirigent bei Bach und Händel „zeigte sich Rubinstein noch nicht in seinem eigentlichen Fahrwasser wie denn in der 8. Symphonie von Beethoven“ (NZfM). „Ohne Hülfe der Partitur, ganz dem Orchester zugewandt leitete er die Aufführung in einer Weise, daß man den Eindruck hatte, die ganze streichende und klopfende Schaar sei ein einziges riesiges Clavier , dessen Tasten der Dirigent mit souveräner Sicherheit in Bewegung hält“. (Signale) Das Orchester zählte 132 Musiker, angeführt vom Fürstlich-lippischen Hofkapellmeister Carl Ludwig Bagheer aus Detmold als Konzertmeister.[26] 1870 hatte er im baltischen Reval /Tallin selbst ein Musikfest geleitet.[27]

Der Höhepunkt im Konzert des 2. Tages vom Musikfest war nun als II. Abteilung „Der Thurm zu Babel“. Die Aufführung „gab dem zweiten Festtage seine Signatur und Interesse“. Vorausgegangen war in der I. Abteilung die 4. Sinfonie von Robert Schumann, „Mirjam’s Siegesgesang“ von Franz Schubert, „instrumentiert von Franz Lachner“ und die Oberon-Ouvertüre von C. M. von Weber mit dem Horn-Solisten Cordes aus Detmold. „Zu den vortrefflichen Seiten der Dirigententüchtigkeit Tausch’s haben nicht nur der Umstand zu zählen, daß auch er eine Schumann’sche Symphonie ohne Partitur dirigiren kann, als vielmehr der electrisierende Einfluß, den er auf die Mitglieder des Chors auszuüben versteht.“ (NZfM) Lachners Bearbeitung von Mirjam’s Siegesgesang war erst jüngst als opus 136 bei Senff im Druck erschienen.[28]

Im Programm-Heft, das immer schon die Texte der Gesangstücke beinhaltete, ist der von Julius Rodenberg zum „Thurm von Babel“ vollständig abgedruckt „(Mit Bewilligung des Verlegers Bartholf Senff zu Leipzig) “ und bietet auch die szenischen Anweisungen: „Im Vordergrund ein mächtiger Baum…; im Hintergrunde der Thurm, auf dessen Baugerüsten das Volk, gruppenweise gelagert, schläft“. Der „Chor des Volkes“ nach dem Weckruf des „Aufsehers“ gesungen von insgesamt 673 Sängerinnen und Sängern muss ein gewaltige Wirkung gehabt haben. Das Notenarchiv bewahrt noch heute allein 149 Sopran-Stimmen von dieser Aufführung. Grundverschieden waren in den Vorproben die Urteile über das Werk. „Was von den Verehrern des berühmten Pianisten mit stürmischem Beifall begrüßt wurde, begegnete auf der anderen Seiten hämischem Lächeln oder unverhohlenem Widerwillen. Und da die Menschheit sich am liebsten über Kleinigkeiten und Abgeschmacktheiten erhitzt, so hätte es leicht zu Gegendemonstrationen und unangenehmen Scenen kommen können, wenn nicht die aller Gehässigkeit abholden Festtagsstimmung und die Anwesenheit des liebenswürdigen Componisten  dem vorgebeugt hätte.“ (Signale / NZfM) Jedenfalls versetzte die Komposition die Aufführenden, vor allem die Musiker des Orchesters „in außergewöhnliche Begeisterung“, so dass auch die skeptischen Zuhörer der Proben sich noch vor dem Konzert herbeiließen, „Dies und Jenes zu loben“. Glanzpunkte der Aufführung waren die „wahrhaft vorzügliche Leistung“ des Orchesters an erster Stelle und die der beiden Solisten, des Herrn Franz Diener aus Mainz, der wegen der plötzlichen Erkrankung des Concertsängers Ruff die Partie des „Abraham“ sang, und des Herrn Êugen Gura, Baritonsänger aus Leipzig, als „Aufseher“, der auch noch die schwierige Baßpartie des „Nimrod“ übernahm. Ob es Rubinstein gelang, seinen Lorbeerkranz unversehrt nach Hause zu bringen, bezweifelt der Rezensent aus der Beobachtung, dass zahllose Verehrerinnen die immergrünen Blätter als Reliquie mit sich davon trugen. 2018 erfuhr die Geistliche Oper „Der Turm zu Babel“ eine Wiederaufführung am Saarländischen Staatstheater in Saarbrücken.

Das sogenannte „Künstlerkonzert“ am 3. Tag gab den Solisten Gelegenheit, in einer Art „Musikalischer Ausstellung“ mit ausgewählten Kompositionen ihre virtuosen Stärken zur Geltung zu bringen. Die beiden Abteilungen umfassten insgesamt 12 Programm-Punkte. Der Star unter den Gesangssolisten, die Sopranistin Euphrosine Parepa-Rosa aus London, sang in beiden Abteilungen, darunter das Finale aus Mendelssohns unvollendeter Oper „Loreley“ (MWV L7) mit Schlusschor. Als 3. Stück spielte Rubinstein „mit unvergleichlicher Poesie“ das 4. Klavier-Konzert von Beethoven mit eigenen Kadenzen auf einem Bechstein-Flügel. Als Zugabe öffnete Rubinstein „eine ganze Märchenwelt bunter Gestalten“ in den „Études symphonique en forme de variation“ von Robert Schumann. Auch danach wurde „dem unverwüstlichen Manne keine Ruhe gegönnt“. Erst nachdem die Liszt’sche Bearbeitung des „Erlkönigs“ von Schubert vorüber war, „gaben sich die ungestümen Forderer zufrieden“. Auch der Violin-Professor aus St. Petersburg Leopold Auer trat zwei Mal auf, zunächst mit dem Adagio aus dem 9. Violin-Konzert von Louis Spohr, dann mit dem Violin-Konzert in a-Moll von Wilhelm Bernhard Molique. Der 1845 in Ungarn geborene Auer war in Hannover Schüler von Joseph Joachim und erhielt 1862 seine erste Anstellung als Konzertmeister im Düsseldorfer Concertorchester (bis 1865),[29] war also Tausch wohlbekannt. 1868 wurde er in London von Rubinstein und Alfred Piatigorski eingeladen, in einem Konzert das Erzherzog-Klavier-Trio von Beethoven mit zu spielen. Rubinstein war damals auf der Suche nach einem Violin-Professor für das Konservatorium in St. Petersburg und verpflichtet Auer. Ob er 1872 in Düsseldorf schon die Stradivari Geige spielte, bleibt offen. Merkwürdigerweise würdigt der Rezensent Auers Spiel nicht, vielleicht um vom Mittelpunkt Rubinstein nicht abzulenken. Ein heiteres Festessen beschloss das Fest mit Reden und Versen, u.a. vom Textdichter Julius Rodenberg, der aus Berlin angereist war. In seiner Antwort meinte Rubinstein, „daß der Componist Rubinstein es wohl dem Pianisten zu verdanken habe, wenn der erstere in das Programm genommen und nicht vom Publicum wieder davon gestrichen worden zu sein.“

Die nachdenkliche Bemerkung äußerte Rubinstein sicherlich im Hinblick auf die schon in Wien angekündigte Konzerttournee nach Amerika, zu der er von Düsseldorf aufbrach. Unerwähnt ließ Rubinstein damals, dass er die Reise mit einem Partner unternahm, dem aus dem polnischen Lublin stammenden Geigenvirtuosen Henryk Wieniawski.[30] Mit dem 1. Solisten der Hofoper und Lehrer am Koservatorium in St. Petersburg hatte Rubinstein seit den 1840er Jahren zusammen gespielt.[31] Der letzte Anstellungsvertrag von Wieniawski war 1872 ausgelaufen. Seit 1875 wirkte er dann als Professor am Conservatoire in Brüssel.

Düsseldorf, das den Gästen „in liberaler Weise“ die Gesellschaftsräume der Künstler-Vereinigung „Der Malkasten“ (Vorsitzender Prof. Achenbach), der Freimaurer-Loge und der besseren Hotels zur Verfügung stellte, „stolpert[e] förmlich über musikalische und literarische Größen“. (Signale). Die nun herangezogenen Zeitdokumente vermitteln bisher unbekannte Details für das Jahr 1872, dessen Niederrheinisches Musikfest für die Stadt Düsseldorf nun wirklich zu einem musikgeschichtlich denkwürdigen und singulären Ereignis wurde. Zugleich gewährt das Musikfest um die Zeitachse 1872 herum mit Rubinstein, Auer und Wieniawski als Protagonisten ein eindrückliches Bild von den vielfältigen musikkulturellen Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa. Innerhalb eines übergreifenden Zusammenhangs ist es zudem ein kleiner Gedenkstein für das künstlerische Wirken von drei Musikern aus Russland, Ungarn und Polen, die eine jüdische Herkunft verband.

von Klaus W. Niemöller im Juni 2021 -

Prof. Dr. Nieemöller hat die Veröffentlichung am 14.6.2021 autorisiert.

Hier die Fußnoten zu dieser Arbeit:

[1] Kadja Grönke: Anton Gror’evic Rubinstein, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Ausgabe, Personenteil 14, Kassel 2005, Sp. 506. 

[2] Stefan Weiss: „Zwischen den Nationen zerrieben“. Nationale Doppelzugehörigkeit als Dilemma des Komponisten  Anton Rubinstein, in: Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen, hrsg. Dagmar Freist, Bielefeld 2019, S. 103ff.

[3] Rainer Großimlinghaus: Aus Liebe zur Musik. Zwei Jahrhunderte Musikleben  in Düsseldorf. Die Chronik  des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf 1818-1988, Düsseldorf 1888 – Nina Sträter: Der Bürger erhebt seine Stimme. Der Städtische Musikverein zu Düsseldorf  und die bürgerliche Musikkultur im 19. Und 20. Jahrhundert(Schriften zur politischen Musikgeschichte 1.), Göttingen 2018, S. 174.

[4] Wolfgang Dumont. Julius Tausch, in: Rheinische Musiker, 2. Folge (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 53.), Köln 1962, S. 104-108.

[5] Klaus Wolfgang Niemöller: Zur dramaturgischen Position der Sologesänge in Anton Rubinsteins Oratorium  „Das verlorene Paradies“, in: Aria. Eine Festschrift für Wolfgang Rufe (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 65.), Hildesheim 2011, S. 656 – 673.

[6] Susanne Cramer: Die Musikalien des Düsseldorfer Musikvereins (1801-1929). Katalog, Stuttgart 1996, S. 280.

[7] Leider fehlt bisher eine Untersuchung des „traditionellen Oratoriums“, da es erst nach dem Erscheinen von Rubinsteins Schrift über die Geistliche Oper 1882 so benannt worden sei, was aber 1872 in Düsseldorf schon der Fall war. Anne Katrin Tuschel: Anton Rubinstein als Opernkomponist (studia slavica musicologica 23.), Berlin 2001, S. 138.

[8] Erwin Kroll: Musikstadt Königsberg, Freiburg 1966, S. 53f.

[9] Signale für die musikalische Welt, 30. Jg. Nr. 28, 28. Mai 1872, S. 433-436.

[10] Anonym: Correspondenz. Düsseldorf, in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 39, Jg. 68, Nr. 24 u. 26, Juni 1872, S. 245 u. 263.

[11] Klaus Wolfgang Niemöller: Ferdinand Hiller und die Niederrheinischen Musikfeste, in: Ferdinand Hiller. Komponist. Interpret. Musikvermittler, hrsg. Arnold Jacobshagen (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 177.), Kassel 2014, S. 433f.

[12] Großimlinghaus (wie Anm. 3), S. 40 (Abb.).

[13] Rubinstein’s Abschied vom Singverein, in: Signale, Nr. 26, 1872, S. 394.

[14] Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, II. Abt. 1870-1912 verfasst von Robert Hirschfeld, Wien 1912, S. 97, 123, 303f.

[15] Klaus Wolfgang Niemöller: Das Oratorium „Christus“ von Franz Liszt: ein beitrag zu seinen konzeptionellen Grundlagen, in: Beiträge zur Geschichte des Oratoriums seit Händel. Festschrift Günther Massenkeil, Bonn 1986, S.329-343.

[16] Geschichte (wie Anm. 12), S. 144.

[17] Klaus Wolfgang Niemöller: „dem groessten tonmeister der gegenwart“. Johannes Brahms und der Orgelvirtuose Samuel de Lange, in: Brahms-Studien, Bd. 43 (im Druck).

[18] Der Verfasser dankt Dr. Gregory Moiseev vom Moskauer Konservatorium für die Mitteilung aus seiner Studie (Übersetzung durch Autor): Anton Rubinstein und Großfürst Konstantin Nikolajewitsch. Zur Geschichte der Beziehungen, in: Bericht der russischen Gnesim-Akademie, Moskau 2020.

[19] Rudolf Hopffner. Carl Amadeus Stein und die Physharmonika, in: Harmonium und Handharmonika (Michelsteiner Konferenzberichte 62.), Michaelstein 2002, S. 61-68.

[20] Die Gedichte und das Requiem für Mignon aus Goeth’s „Wilhelm Meister’s Lehrjahren“ in Musik von Anton Rubinstein op. 91“, 105 S. Part. u. Singstimmen (Digitalisat Yale University Library).

[21] Gero Ch. Vehlow: Studien zur Geschichte der Musik für Harmonium (Kölner Beiträge zur Musikforschung 203.), Regensburg 1998, S. 103.

[22] Geschichte des Singvereins der Gesellschaft für Musikfreunde in Wien. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum , Wien 1908 (Digitalisat).

[23] Abb. des Photos aus dem Theatermuseum Wien im Internet.

[24] G. Fr. Händel; Cäcilien-Ode in der Neugestaltung von Friedrich Chrysander, Clavierauszug, Berlin 1921, S. 43: Nr. 9.

[25] Klaus Wolfgang Niemöller: Perspektiven der europäischen Konzertsaalorgel in der Musikgeschichte des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts, in: Die Orgel im Konzertsaal und ihre Musik. Bericht über das Symposion St. Petersburg 2005 [in der St. Petri-Kirche], hrsg. Klaus Wolfgang Niemöller (Institut für deutsche Musikkultur im östlichen Europa. Schriften Bd. 15), Sinzig 2010, S. 13f. (Abb.1 u. 2).)

[26] Richard Müller-Dombois: DieFürstlich-lippische Hofkapelle (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 28.), Regensburg 1972, S. 122.

[27] Helmut Loos: Tallin als Musikstadt, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa, H. 20, Leipzig 2018, S. 77.

[28] Cramer (wie Anm. 5), S. 286f.

[29] Eva Aurelia Gehr, Leopold Auer, in: Lexikon der Violine, hrsg. Stefan Drees, Laaber 2004, S. 54f.

[30] Anton Rubinstein: Erinnerungen aus 50 Jahren 1839-1889, Leipzig 1893: „Im Jahr 1872 unternahm ich zusammen mit dem nun verstorbenen Geiger Henryk Wieniawski eine Tour durch Amerika, 8 Monate.“

[31] Sabine Feist: Henryk Wieniawski, in: Lexikon der Violine, Laaber 2004, S. 755. – Robin Stowell: Fantasising on Faust, in : Henryk Wieniawski and the Bravura Tradition, ed. Michael Jablonski, Poznan 2011, S. 36.

Ausführliche Biographie von Prof. Dr. Klaus Wolfgang Niemöller im Beitrag vom 8.6.1922