Galerie
Uraufführung in der Tonhalle René Staars „Schwarzer Schnee“

Die Konzerte fanden am 3.5. (UA), 5.5. und 6.5. 2024 in der Tonhalle Düsseldorf statt. Schauen Sie hinter folgendem Link in die Kritik zum Konzert:

https://archiv.musikverein-duesseldorf.de/tonhalle-und-dauernd-gruesst-die-marseillaise/

Eine Dokumentation von Georg Lauer zur Uraufführung von René Staars "Schwarzer Schnee" in Düsseldorf!

René Staar mit „Schwarzer Schnee“ in Düsseldorf

Die Tonhalle bewirbt die bevorstehenden drei Sternzeichenkonzerte Anfang Mai auf ihrer Internetseite derzeit so:
David Reiland ergründet die doppelten Herztöne Schumanns. Seine 4. Symphonie entstand hörbar in der frühen Liebeseuphorie mit Clara. Die Erstfassung wurde zu ihrem Geburtstag fertig. Dass der Komponist danach noch zehn Jahre an dem Werk gefeilt hat, beweist, dass wahre Liebe eben auch in der Musik vor allem eins ist: echte Beziehungsarbeit. Während diese Liebeserklärung ohne Worte auskam, wird in »Schwarzer Schnee« von René Staar Klartext gesprochen. Der Wiener Komponist setzt jenen ein Denkmal, die den Mut und die Kraft aufbringen, uns über das oft verborgene Unrecht aufzuklären, das tagtäglich in unserer Welt geschieht.

Die Uraufführung
René Staars neue Komposition sollte ursprünglich beim Menschenrechtskonzert am 19. März 2022 unter der Leitung von Adam Fischer uraufgeführt werde. Coronabedingt musste die Aufführung verschoben werden. Das Auftragswerk der Tonhalle Düsseldorf - auf Texte von Aslı Erdoğan, Cem Özdemir, René Staar, André de Bouchet, Giuseppe Ungaretti und Jannis Ritsos - für Sopran, Sprechstimme, Chor und ungarisches Cimbalom kommt nunmehr in den Sternzeichenkonzerten Anfang Mai 2024 zur Uraufführung, die Aufführungsdauer ist mit 22 Minuten angegeben.

Vorbereiten und erarbeiten
Seit mehreren Wochen - parallel liefen noch die Proben für Joseph Haydns Nelson-Messe zum Menschenrechtskonzert Ende Januar - erarbeitet der Chor des Städtischen Musikvereins in Einzel- und Gesamtproben der Damen- und Herrenstimmen das Klangmaterial, das im Klavierauszug der neuen Komposition „Schwarzer Schnee“ des österreichischen Komponisten René Staar bereitgestellt ist. Krasser könnte der Unterschied zwischen der in „unsicheren Zeiten“ komponierten Haydn-Messe – mit dem Untertitel „in angustiis“! – und dem aktuellen Werk des zeitgenössischen Komponisten nicht sein: Dort die überlieferten Liturgietexte in traditioneller Klangwelt, die die damalige Zuhörerschaft mit hier und da ungewöhnlichen Harmonien und Paukenschlag-Effekten (Agnus Dei „Dona nobis pacem“!) aufschreckt, hier völlig fremde deutsche, französische, griechische und italienische Texte, vorgetragen von einer Sprecherin, einem Solo-Sopran, von Frauen-, Männer- und Gemischt-Chorpartien und empört dreinrufenden Chorsolisten, die die Schicksale von weiteren vermissten Regimekritikern aufgeklärt wissen wollen! Es geht um Unterdrückung und Erpressung, Hass und Folter, Mord und Totschlag und die Angst und Sorge der Angehörigen um Vermisste und Tote.

Begrüßen und zuhören
Am 4. April 2024 besuchte der 1951 in Graz geborene und in Wien zum Geiger, Pianist und Dirigent ausgebildete Komponist René Staar Düsseldorf und die Chorprobe des Städtischen Musikvereins. Nach der Begrüßung durch den Vorsitzenden Stefan Schwarze präsentierte Chordirektor Dennis Hansel-Dinar
den Stand der Probenarbeit und ließ den Chor die ersten Takte des Werkes vortragen: Die zurückliegenden Osterferientage sorgten dafür, dass nicht alle Partien sofort gedächtnispräsent verfügbar waren und Sorge machte sich breit, der Komponist würde sein Werk nicht wiedererkennen.

Erläutern und beraten
Dem war aber nicht so! Der Chorleiter hatte bereits durch frühere Telefonate mit René Staar dessen humorvolle und zugewandte Seite bei Fragen zur Interpretation hervorgehoben, und so zeigte sich dieser auch jetzt dem Chor gegenüber geradezu aufgeschlossen-freundschaftlich, wenn er mit eigener Stimmtechnik das Ein- und Ausatmen bestimmter Partien lautmalerisch vorführte. Wenn der Chor solche Passagen mit an- und abschwellenden „sch...“ und
„ps...-Lauten“ einigermaßen gekonnt reproduzieren konnte, sparte er nicht mit Lob. Spezielle Fragen zu bestimmten Solo-Einsätzen wurden im Team geklärt.

Inhalt und Gestaltung
Der Rahmen, in dem das Szenario dargeboten wird, wirkt mit Einleitung, Durchführung und Schluss-Chor beinahe konventionell angelegt, vielleicht am ehesten vergleichbar mit der Werkgattung „Szenisches Oratorium“. Es beginnt ouvertürenhaft mit einem Bericht über die politischen und  gesellschaftlichen Zustände in namentlich nicht genannten Ländern der Welt, vom Männerchor: in unmissverständlicher Sprech-Gesang-Schärfe vorgetragen:

„Die Repressionen gegen die Opposition nehmen Ausmaße an, bei denen man nicht umhinkommt, von einer Diktatur zu sprechen. Die Presse ist entweder gleich- oder ausgeschaltet. Hunderte Journalisten sitzen in Gefängnissen oder mussten das Land verlassen, um Verfolgung und Folter zu entgehen. Regierungskrisen, ein gescheiterter Militärputsch, die Verhaftung unliebsamer Personen und Schlägereien in der Nationalversammlung sind Normalität.“

Im Anschluss erzählt die Solo-Sopranistin von den Ängsten und psychischen Belastungen, die die „Repressionen gegen die Opposition“ im Land auslösen, unterstützt von emotionalen Vokalisen des Chores. Dann macht sich der Chor zur Stimme derer, die zum Verstummen gebracht sind, und beklagt die Hilflosigkeit im Zustand der Rechtlosigkeit. Die Sängerin hebt acht Einzelschicksale aus der Anonymität heraus, woraufhin Einzelstimmen aus dem Chor
die Namen von Opfern in den Raum stellen, deren Schicksal man nicht kennt. 18 Namen versteht man; die Flut der folgenden geht im sprachlichen Durcheinander unter. Was bleibt ist Hoffnungslosigkeit und Angst, in Rezitativ und Arie vorgetragen von der Sopranistin, eingeleitet durch das Paradoxon „hört auf die Toten zu töten“.

Der Schlusschor nach einem Text des griechischen Dichters Jannis Ritsos weckt Assoziationen christlicher Erlösungshoffnung „hinaufsteigen werden wir“, überdeckt und beherrscht jedoch von Ohnmacht und Trostlosigkeit:

„Θ’ανέβουμε πάνω...

Hinaufsteigen werden wir,
gestützt auf die Schultern der Toten,
die lose Erde auf der Brust,
in einer Trümmerprozession, und
die Feigenkakteen stehen [wie zum Appell] angetreten,
der Zeit entlang, sprachlos, antwortlos,
und dämpfen mit ihren breiten Händen
das Dröhnen der vergrabenen Glocke.“

Verstehen und vertrauen
In seinem Bemühen, für die schwierige Thematik seines  Stückes eine Ausdrucksform von Sprache und Musik zu finden, die sowohl Ausführende wie Konzerthörer erreicht, greift der Komponist zu ungewöhnlichen Mitteln von unharmonischen Klang- und Geräuschbildungen in unterschiedlichsten Taktfolgen. Die völlig ungewohnten Schwierigkeiten der sprachtechnisch-chorischen Umsetzung fordern jedenfalls erheblichen Probeneinsatz aller
Beteiligten.

Mit Wiedererinnern gelernter Passagen kehrte während der weiteren Probe auch die Sicherheit zurück, dem Komponisten auch heikle Stellen einigermaßen überzeugend präsentieren zu können. Schließlich wuchs auch mit den Erläuterungen seiner Intentionen das Verständnis für die mit ungewohnter Zeichensetzung dekorierte Gestaltung des Klavierauszuges und die Umsetzung des Themas in die zu Papier gebrachte Komposition. Das Rätselraten um den Namen des Werkes klärte der Komponist damit auf, dass weißer Schnee an sich etwas Schönes und Liebenswertes sei, dass aber das, was in den Texten seiner Komposition sichtbar würde, das total Gegensätzliche sei: schmutzig, elend und schwarz. Dass er sein Opus 22 mit dem Zusatz „q“ ergänzt hat, sei der Thematik geschuldet, die alle seine Opus-22er Werke miteinander verbinden. Zunehmend fanden die Sängerinnen und Sänger des Musikvereins während der Probe Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Umsetzung des schwierigen Themas; ihrer verantwortungsvollen Aufgabe bei der Umsetzung und Gestaltung des neuen Werkes sind sich alle bewusst.

Am Schluss der wegweisenden Probe dankte Dennis Hansel-Dinar sowohl dem Komponisten René Staar für dessen wertvolle Hinweise zu Inhalt und Einstudierung seines neuen Werkes „Schwarzer Schnee“ als auch Grant Sung, der ihn als Chorleiter, Korrepetitor und die Tenorfraktion verstärkender Sänger bestens vertrat, und nicht zuletzt - mit Vertrauen und Zuversicht in ein erfolgreiches Konzert - allen Sängerinnen und Sängern für ihr anhaltendes
Engagement.

GL 17.04.2024


„Schwarzer Schnee“ von René Staar (Libretto / Textcollage)
1 - Einleitung (Die Sängerin):
Mon récit sera la branche noire,
qui fait un coude dans le ciel.
Je m'arrête au bord de mon souffle,
comme d'une porte,
pour écouter son cri.1
Mein Bericht wird der schwarze Ast sein, der ein Knie bildet am Himmel. Ich halte inne am Rand meines Atems, wie an dem einer Tür, um deren Schrei zu hören.

4 - Der Chor der Männer:
Die Repressionen gegen die Opposition nehmen Ausmaße an, bei denen man nicht umhin kommt, von einer Diktatur zu sprechen. Die Presse ist entweder gleich- oder ausgeschaltet. Hunderte Journalisten sitzen in Gefängnissen oder mussten das Land verlassen, um Verfolgung und Folter zu entgehen. Regierungskrisen, ein gescheiterter Militärputsch, die Verhaftung unliebsamer Personen und Schlägereien in der Nationalversammlung sind Normalität.

9 - Die Erzählerin:
Habt ihr je zuschauen müssen, wie ein Mensch, den ihr sehr liebt, sich auf den Weg macht, um nie wieder zurückzukehren? Hast du je auf einen Menschen gewartet, von dem du nicht weißt, was mit ihm geschehen ist? Stundenlang, tagelang, ohne vom Telefon wegzugehen, mit leeren Hoffnungen jedes Mal wenn es klingelt, schon gepackt von furchtbaren Zweifeln. Jede Sekunde reißt sich schmerzhaft von deinem Herzen und stürzt zu Boden, sie scheint zu zerschellen. Dem Rauschen der Stunden kannst du nicht standhalten, die Wände stürzen auf dich nieder. Bei jedem Schritt lebst du auf und hältst den Atem an. Es war nur der Nachbar. Die Straßen wie ausgeleert. Die Welt ist mit einem enormen Klagelied überzogen, doch nur deine Ohren können es wahrnehmen. Es muss noch eine Spur geben irgendwo, unbedingt. Deine Augen scannen die Zeitungen, Gärten, Keller - die Busfenster ab. Du schaust an jedem einzelnen Baum hinauf, vielleicht hat er mit dem Messer ein Hoffnungszeichen eingeritzt. Bei einem bekannten Mantel hüpft das Herz. Zwei feuchte, einsame Sterne an einem hinter Geäst verborgenen Firmament waren deine Augen.

17 - Chor:
Wer schließt sie uns auf, jene Tore zur Wahrheit?
Wer schützt all jene, die uns wissend machen
Und ehrt die, die dafür verfolgt und ermordet werden?

19 - Die Sängerin:
Georgiy Ruslanowitsch Gongadse veröffentlichte investigative Berichte über das Umfeld des damaligen ukrainischen Präsidenten. Sein enthaupteter Körper wurde im November 2000 in der Nähe von Kiev gefunden.
Anna Stepanova Politkovskaya berichtete über Kriegsverbrechen, Folter und Mord im zweiten Tschetschenienkrieg und wurde am 7. Oktober 2006 Opfer eines Auftragsmords im Aufzug ihres Wohnhauses.
Hrant Dink wurde am 19. Januar 2007 vor seinem Verlagshaus seiner türkisch-armenischen Zeitung in Istanbul von einem 16-jährigen erschossen, der die Waffe von einem nationalen Extremisten erhalten hatte.

1 aus: André du Bouchet: Le moteur blanc [1956] (Übersetzung von Paul Celan)
2 aus: Aslı Erdoğan, Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch (Textbearbeitung: René Staar)
Daphne Caruana Galizia ermittelte gegen Korruption und kam am 16. Oktober 2016 durch eine Autobombe ums Leben.
Gaudi Lankesh bezahlte ihre Kritik an einer extremen hinduistisch-nationalen Politik und ihren Auswirkungen am 5. September 2017 mit ihrem Tod. Drei Männer lauerten ihr auf und erschossen sie.
Jan Kuciak ermittelte gegen das organisierte Verbrechen in seinem Land und wurde gemeinsam mit seiner Verlobten Martina Kušnírova am 21. Februar 2018 in seinem Haus in der Westslowakei erschossen.
Jamal Ahmad Khashoggi kritisierte als Kolumnist der Washington Post die Menschenrechtsverletzungen seines Heimatlandes und wurde im Oktober 2018 im saudiarabischen Konsulat in Istanbul ermordet.
Ruholla Zam prangerte Wahlbetrug und Korruption des iranischen Regimes an. Von den Revolutionsgarden zum Tod verurteilt, erhängte man ihn am 12. Dezember 2020 in Teheran.

26 - Die empört Rufenden (Chorsolisten, rufend):
Solo 1: Und was ist mit James Foley? - Ja, James Foley!
Solo 2: Ananda Bijoy Das!
Solo 3: Oder Allessandro Saša Ota?
Solo 4: Und María Veronica Tessari?
Solo 5: Danilo Lopez
Solo 6: Jochen Piest?
Solo 7: Daniel Pearl?
Solo 8: Regina Martínez!
Solo 9: Victoria Marinova?
Solo 10: Mohammeds med Guessab!
Solo 11: Sushmita Banerjee?
Solo 12: Nelson Carvajal!
Solo 13: Guy André Kieffer!
Solo 14: Saveed Karimian?
Solo 15: Giorgos Karaivaz!
Solo 16: Malik Mumtaz!
Solo 17: Francisco Gomes de Medeiros!
Solo 18: Okeson Haberman?
tutti: BATTUBATE.

28 - Die Erzählerin:
Ich bin an einem der toten Punkte des Schicksals, wo alle Wege sich ineinander verschlingen und verknoten, es ist wie in einem Sarg ohne Licht, ohne Ausweg, ohne Umkehr. Es gibt hier keine Zeit, die im Jetzt ankommen könnte, die durch ein Nadelöhr rieselnd vergehen würde, und es gibt auch kein Ich, das auf dem Boden eines Jetzt seine Ganzheit und Kontinuität bewahren könnte. Alle Worte lösen sich im finsteren Wust auf und zerfließen, gemeinsam mit ihren Gegenteilen, es ist nichts mehr da, was die Hoffnung noch von der Verzweiflung, die Angst noch von der Furchtlosigkeit, das Gestorben sein noch vom
Nicht gestorben sein trennen würde. Ist der Mensch taub für alles, was nicht sein eigenes Leben berührt? Was, bitte, bedeutet Gerechtigkeit, wenn jeden
Tag wieder ein Mensch umgebracht wird, … und wieder einer, … und wieder einer …?
Ich will nicht Mittäterin sein. Ich will nichts zu tun haben mit dem Sperrfeuer, das auf Frauen, Kinder und Greise eröffnet wird, die mit weißen Fahnen aus den Trümmern ihrer Häuser kommen. Ich will nicht Mittäterin sein an dem Grauen, dass ein einzelner, komplett verbrannter Kieferknochen eines Kindes in einem Keller gefunden wurde. Und nichts zu tun haben mit den fünf Kilo Fleisch und Knochen, die jemandem mit den Worten ausgehändigt wurden: Das ist dein Vater. Ich will nicht Mittäterin sein an der Ermordung von Menschen, und auch nicht an der Ermordung von Worten, an der Ermordung der Wahrheit.

38 - Die Sängerin:
Cessate d‘uccidere i morti
non gridate più
se li volete ancora udire
se sperate di non perire.
Hanno l‘impercettibile susurro,
non fanno più rumore del crescere dell‘erba,
lieta dove non passa l‘uomo.3
Hört auf, die Toten zu töten,
hört auf zu schreien, schreit nicht,
wenn ihr sie noch einmal vernehmen wollt,
wenn ihr hofft, nicht zugrunde zu gehen.
Sie haben dieses unhörbare Flüstern,
sie machen weniger Lärm als das wachsende Gras,
glücklich, wo kein Mensch entlanggeht.

42 - Die Erzählerin:
Unentschlossen warte ich. Am Fenster, wo ich immer sitze, in dem Land, in das ich hineingeboren wurde. So lausche ich mehr meiner inneren Stimme als den Stimmen von draußen. Der unendliche Himmel ist perlmuttweiß, perlweiß, tränenweiß. Sogar der Marktplatz ist heute stiller als sonst. Ich lausche gespannt. Lausche den Stimmen einer fernen Stadt. Verfolge ihre Stimmen, Hoffnungen, Mahnungen, Signale… Ich harre am offenen Fenster aus, an der unscharfen Grenze zwischen dem Gesagten und dem Unaussprechlichen, zwischen Gestern und Jetzt, zwischen mir und dem anderen. Mit meinen urplötzlich anschwellenden Ängsten, meinen abgelagerten, bitter gewordenen Gefühlen und mit nach Zigaretten stinkenden Fingern erflehe ich ein Wort von der Schweigsamkeit der Welt. Die Wolken ziehen auf, die Vögel flüchten sich auf Dächer, unter Simse, an Fenster. Das Zimmer ist erfüllt vom Rauschen des Regens. Eine Angst, die mit dem Einbruch der Dunkelheit unerträglich wird und in der Nacht zehnmal, zwanzigmal aufschrecken lässt. Die Schuld, die mit jedem Schritt in die Unschuld eindringt, die ohnehin von allen als wertlos betrachtet wird:

50 - Die Sängerin:
Schuld des Überlebenden, der aus Zufall oder aus Gnade, wie ein Wunder oder mit Unterstützung, als Privileg oder aus einem Schweigen heraus am Leben bleibt.

51 - Die Erzählerin:
Es wird bald Morgen, die Maske der Finsternis bröckelt ab, aber hinter ihr wird kein Gesicht erkennbar. Wie ein Gespenst gleite ich über die Straßen, auf denen ich herkam, die gleichen Boulevards, die wohlvertrauten Straßen, sie sind nur irgendwie länger oder kürzer geworden, haben sich verformt. Sie scheinen mich auch nicht mehr zu erkennen, sie wollen diese neue Last nicht tragen, diese Erschöpfung…
Ich friere, als hätte ein mir völlig unbekannter Mensch mich in den Arm genommen und sei dann gestorben, und ich fröre unter diesem unerträglichen Gewicht der starren Umarmung. 3 Giuseppe Ungaretti, Non gridate più [1947]

55 - Die Sängerin und der Chor - Schlussgesang:
Aussprache (IPA)
θɛ'mɛlja 'katɔ ap ta θɛ'mɛlja.
i ɛklis'jɛs 'katɔ ap ta 'spitja.
kambanar'ja 'panɔ ap ta 'spitja.
sɛ pjɔ 'vaθɔs tu 'vraχu
krat'jɛtɛ i 'riya tis sik'jas?
sɛ pjɔ kla'ði tu a'jɛra krat'jɛtɛ
ɔ 'χrisɔf'tɛruɣɔs ar'χaŋgeɛlɔs?
θa'nɛvumɛ 'panɔ
stiriɣ'mɛni stus 'ɔmus tɔn nek'rɔn,
mɛ tɔ 'χɔma sto 'stθɔs,
sɛ mja pɔm'bi ɛri'piɔn,
kji fraŋgɔsik'jɛs parataɣ'mɛnɛs
ka'ta 'mikɔs tu 'χrɔnu, vu'vɛs,
ananda'pɔkrites,
me ta far'dja tus 'çɛrja na
stɔ'mɔnun ti vɔ'i tis θam'ɛnis
kamb'anas.
Επίπεδα διαρκείας
Θεμέλια κάτω απ’ τα θεμέλια.
Οι εκκλησιές κάτω απ’ τα σπίτια.
Καμπαναριά πάνω απ’ τα σπίτια.
Σε ποιο βάθος του βράχου
κρατιέται η ρίζα της συκιάς;
Σε ποιό κλαδί του αγέρα κρατιέται
ο χρυσοφτέρουγος Αρχάγγελος;
Θ’ανέβουμε πάνω
στηριγμένοι στους ώμους των νεκρών,
με το χώμα στο στήθος
σε μιά πομπή ερειπίων,
κι οι φραγκοσυκιές παραταγμένες
κατά μήκος του χρόνου, βουβές,
ανανταπόκριτες,
με τα φαρδιά τους χέρια να
στομώνουν τη βοή της θαμμένης
καμπάνας.4
Ebenen von Dauer
Fundamente unter den Fundamenten.
Die Kirchen unter den Häusern.
Glockentürme über den Häusern.
Wie tief im Fels hält sich die Wurzel des Feigenbaums fest?
Wo im verzweigten Wind hält sich der goldgeflügelte Erzengel fest?
Hinaufsteigen werden wir, gestützt auf die Schultern der Toten,
die lose Erde auf der Brust, in einer Trümmerprozession, und
die Feigenkakteen stehen [wie zum Appell] angetreten,
der Zeit entlang, sprachlos, antwortlos, und dämpfen mit ihren breiten Händen
das Dröhnen der vergrabenen Glocke.
Kaktusfeige:
φραγκόσυκο
Feigenkaktus
Κάκτος φραγκοσυκιάς
4 aus: Jannis Ritsos, Monovassiá, 28.9.74, übertragen von Klaus Peter Wedekind, Suhrkamp, 2009


Tonhalle Düsseldorf präsentiert Uraufführung zum Thema Pressefreiheit – Cem Özdemir zu Gast  

Bei den Sternzeichen-Konzerten am 3., 5. und 6. Mai 2024 spielen die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von David Reiland eine Uraufführung mit hoher gesellschaftlicher Relevanz: Der österreichische Komponist René Staar schrieb “Schwarzer Schnee” im Auftrag der Tonhalle Düsseldorf, ausgehend von einer Textcollage der türkischen Journalistin und Schriftstellerin Aslı Erdoğan über die Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit. Bei der Uraufführung des Werks für Orchester, Cimbalom und Chor tragen die Burgtheater-Schauspielerin Sylvie Rohrer und die Sopranistin Marisol Montalvo die eindrucksvollen Texte Erdoğans vor. An verschiedenen Stellen des Stücks werden zudem Gedichte von André du Bouchet, Guiseppe Ungaretti und Jannis Ritsos eingeflochten sowie ein erschütternder Text von Cem Özdemir über die Verfolgung von Journalisten nach dem Putschversuch 2016 in der Türkei, der musikalisch an einen Danse macabre erinnert. Die Uraufführung von “Schwarzer Schnee” in der Tonhalle Düsseldorf wird vom Deutschlandfunk mitgeschnitten und Ende des Jahres gesendet.

Zur dritten Aufführung des Werks am 6. Mai wird Cem Özdemir zum “Green Monday” zu Gast sein. Im Rahmen eines einjährigen Nachhaltigkeitsprojekts probiert die Tonhalle Düsseldorf bei jedem Montagskonzert der Düsseldorfer Symphoniker gemeinsam mit dem Publikum aus, wie ein Konzertabend Stück für Stück nachhaltiger werden kann. Rund um die Konzerte wird ein konkretes Nachhaltigkeitsthema beleuchtet, zu dem Expertinnen und Experten zu Wort kommen, außerdem werden verschiedene Aktionen zum Thema “Grüne Tonhalle” präsentiert. Am 6. Mai steht das Thema “Fahrradanreise” im Fokus des “Green Monday” und Cem Özdemir ist Gesprächspartner im “Green Star Talk” in der Rotunde vor Konzertbeginn. Der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft setzt sich als Schirmherr der gemeinnützigen Initiative AKTIONfahrRAD dafür ein, Kinder und Jugendliche nachhaltig zum Radfahren zu bewegen. Besonderes Aufsehen erregte Özdemir, als er selbst zur Ministerernennung 2021 vom Bundestag zum Schloss Bellevue mit seinem Fahrrad fuhr.

Marita Ingenh​oven

Pressesprecherin Tonhalle Düsseldorf / Düsseldorfer Symphoniker

am 30.4.2024 - 12.00 Uhr


Auszüge aus René Staars Homepage-Seiten
http://www.staar.at/index.php/aktuell Nachhol-Termin: Uraufführung »Schwarzer Schnee« Die für den 19. März 2022 angesetzte Urauf-führung von René Staars Oratorium Schwarzer Schnee op. 22q, einer Auftragskomposition der Tonhalle Düsseldorf für ihr Menschen-rechtskonzert 2022, musste coronabedingt verschoben werden. Stattdessen wird das Werk am 3. Mai 2024 – gemeinsam mit einer Aufführung von Robert Schumanns 4. Symphonie – in der Düsseldor-fer Tonhalle aus der Taufe gehoben werden. Solisten sind Marisol Montalvo (Sopran) und Sylvie Rohrer (Sprecherin), es singt der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf, die Düsseldorfer Symphoniker werden gelei-tet von David Reiland. Enikő Ginzery übernimmt den konzertant ge-haltenen Cimbalom-Part. Das Konzert wird am 5. und 6. Mai wiederholt. Konzertankündigung der Tonhalle Düsseldorf
Schwarzer Schnee op. 22q (2021)
http://www.staar.at/index.php/schwarzer-schnee-op-21q
Auftragswerk der Tonhalle Düsseldorf für Adam Fischers jährlich stattfindendes Men-schenrechtskonzert auf Texte von Aslı Erdoğan, Cem Özdemir, René Staar, André de Bouchet, Giuseppe Ungaretti und Jannis Ritsos
Besetzung: für Sopran, Sprechstimme, Chor, ungarisches Cimbalom und Orchester*
* 2 Flöten (2. auch Piccolo); 2 Oboen; 2 Klari-netten in B; Saxophon (alternierend Sopran in B mit Alt in Es); 2 Fagotte (2. auch Kontrafa-gott); 2 Hörner in F; 2 Trompeten in C; 2 Posau-nen; 4 Schlagzeuger**; Harfe; Streicher (12/12/8/6/6)
** Instrumentarium Schlagzeuger I-IV: I: Pau-ken, 1 sehr großes Becken (auch arco!); II: Xy-lophon, Crotales, 2 Tomtoms (hoch-tief), 1 gro-ßer tiefer Amboss (wie in Rheingold) auf F (al-ternativ ein großes Metallstück mit ungefährer Tonhöhe F, zB. eine Schiene), Becken (hoch,
klein, auch arco!), Guiro, Regenstab, 1 kleine Trommel (mittelgroß); III: Röhrenglocken, 1 mittelgroßes Becken (auch arco!), 2 kleine Trommeln (hoch-tief); IV: Marimbaphon, große Trommel, Tamtam, tiefe Sirene, Triangel
Notizen zum Werk:
Eine im Jahr 2020 ausgearbeitete Textcollage, deren zentraler Kern aus verschiedenen Text-fragmenten der türkischen Journalistin und Schriftstellerin Aslı Erdoğans besteht, bildete den Ausgangspunkt meiner Arbeit am vorlie-genden Stück. Diese eindrucksvollen Texte werden von einer Sprechstimme vorgetragen, die von anderen Texten umrahmt werden. Zwei Gedichtzeilen aus André du Bouchets Le monteur blanc bilden das Motto des Werks: Der schwarze Ast am Himmel und der unter-drückte Schrei symbolisieren dabei die Mah-nungen, die mit den Berichten über die Unter-drückung des investigativen Journalismus an uns alle gerichtet werden. Dieses Motto wird am Beginn des Werks vom Sopran vorgetra-gen, während das Orchester aus vier verschie-denen, zunächst einzeln hörbaren Intervallen eine fünfstimmige Harmonik entwickelt.
Es geht in diesem Stück um jene, die den Mut und die Kraft aufbringen, uns über das oft ver-borgene Unrecht aufzuklären, das tagtäglich in unserer Welt geschieht. Denn die Pressefrei-heit wird immer häufiger angegriffen, und Journalisten wird ihre Arbeit nicht nur durch politischen, sondern auch durch gesellschaftli-chen Druck erschwert, sie werden immer häu-figer bedroht, beschimpft und auch ermordet. Eine Stele auf ermordete Journalisten, die auf wiederkehrende quasi rituelle Beschwörungen einzelner Namen errichtet wird, bildet eines der zentralen Elemente des Werks.
Die Textteile von Aslı Erdoğan schildern drei Si-tuationen: das Verschwinden einer geliebten Person und die Unsicherheit, ob man diese je wiedersehen wird; dann die Empörung über das Unrecht und die Verpflichtung des Bericht-erstatters, nach Wahrheit zu suchen, die in den Worten gipfelt: »ich will nicht schuldig sein an der Ermordung von Menschen und auch nicht an der Ermordung von Worten«; und schließ-lich Trauer um den Verlust an Lebensfreude
und das Gefühl der Leere nach all den Kämpfen um die Wahrheit. Ursprünglich aus der Essay-sammlung Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch (München 2017) ausgewählt, wurden diese Textfragmente zu einem dichten Gewebe destilliert, das Ausgangspunkt eines vielschich-tigen, sich auf ein harmonisches intervallbezo-genes stets fünfstimmiges Geflecht beziehen-den Konzepts wurde.
Als Einleitung für den ersten dieser drei Sprech-teile fungiert ein Männerchor mit einem Text von Cem Özdemir, der sich auf die Verfolgung von Journalisten nach dem letzten versuchten türkischen Putsch bezieht und musikalisch an einen danse macabre erinnert. An wichtigen Stellen des Stücks werden zwei Gedichte einge-flochten, als dramatischer Höhepunkt Giu-seppe Ungarettis Gedicht Non gridate più und am Ende Jannis Ritsos Gedicht Επίπεδα διαρκείας [Ebenen von Dauer], das eine erlö-sende Sicht auf das von Menschen herbeige-führte Leid durch das von Glockentönen beglei-tete Bild der aus Gräbern aufsteigender Geister herbeiführt. Die Gedichte werden vom Sopran gesungen, während der Chor als Kommentar oder Antwort Laute von sich gibt oder in eine Art Zwiegespräch mit den Solisten tritt.
Auszug aus einem Interview http://www.staar.at/index.php/dirigent Wie sind Sie zum Dirigieren gekommen? Mein erster Klavierlehrer, der Exilwiener Walter Wasservogel, erkannte in mir – obwohl ich erst 12 Jahre alt war – einen zukünftigen Dirigen-ten, da ich ein universelles Interesse an den Zu-sammenhängen in der Musik zeigte. 1972 fragte ich schließlich Hans Swarowsky, ob ich bei ihm Dirigieren studieren dürfe, und er fragte mich, warum ich dies als aufstrebender Geiger wolle. Ich habe erwidert, dass ich Fra-gen über Musik habe, die mir bislang nicht be-antwortet wurden, so unter anderem, wie man die Qualität von Musik beurteilen könne, wie man gute von schlechter Musik unterscheiden könne. Meine Antwort schien ihm zu gefallen, denn er hat mich als Schüler angenommen. … Sie dirigieren viele Uraufführungen. Wie be-reiten Sie sich auf eine neue Partitur vor? Ha-ben Sie bei der ersten Probe eines neuen, sehr komplexen Werkes schon Überraschungen er-lebt? Die Kriterien des Studiums einer noch nie ge-spielten Partitur gehen vom Großen ins Kleine. Nachdem man sich über Art und Stil der Parti-tur informiert hat, geht es zunächst darum, den Ablauf durch eine Einteilung in verschiedene Abschnitte zu überblicken. Danach kann man dann die Wichtigkeit und Gewichtung einzelner Strukturen, Themen, Motive und Zellen unter-suchen, um schließlich musikalische Details wie Artikulation, Phrasierung, Klangfarbe (Instru-mentierung) zu bemerken. Die meisten neuen Partituren, darunter auch recht kompliziert aussehende, sind einfacher, als dies allgemein angenommen wird, und mit zunehmender Er-fahrung kann man sich sehr rasch einen ersten Überblick über die Partitur verschaffen. Partituren, die dann bei der ersten Probe gar nicht mehr überraschen, hoffe ich, nicht dirigie-ren zu müssen.
http://www.staar.at/index.php/musiker/geiger Notizen zum Werdegang als Geiger: Erste Violinstunden beim Vater Joe Staar, ei-nem Schüler von Prof. Krehan in Graz (seiner-seits ein Abkömmling der Schule Josef Joachims). Bei einem umfassenden Studium bei Franz Samohyl wird er vertraut mit Wiener Geigentraditionen. Gaststudien bei Anja Ig-natius in Helsinki, einer Schülerin Carl Fleschs und Jaques Thibauts machten mit der französi-schen Geigenschule vertraut und die Teil-nahme an den Meisterklassen von Nathan Mil-stein wurden zum Erlebnis der russischen Gei-gentradition und der Schule Leopold Auers. http://www.staar.at/index.php/musiker/pia-nist Das Klavier in meinem Leben - eine autobio-graphische Skizze Als ich 6 Jahre alt war, wollte ich das Klavier-spiel erlernen. Ich spielte damals schon etwas Geige, aber nur eine Melodie zu spielen, er-schien mir ziemlich unbefriedigend zu sein. Mein Vater hatte nichts dagegen. Ihn hatte es zeitlebens gestört, dass er, wie er meinte, seine Kenntnisse nicht weiter entwickeln konnte, da ihm das Klavier als Harmonieinstrument fehlte.

Eine Dokumentation von Georg Lauer - 17.4.2024