Seit der menschliche Aerosol-Ausstoß von Virologen als extrem gefährlicher Covid-Treiber erkannt wurde, ist bis zum heutigen Zeitpunkt an ein unbelastetes Singen in chorischer Gemeinschaft kaum zu denken. Natürlich gibt es – wie in allen Bereichen, in denen gemeinsame kulturelle oder sportliche Betätigung zum sozial gelebten Bedürfnis gewachsen ist – immer wieder zahllose Versuch, die Gefahr der Ansteckung zu bannen oder zumindest verantwortungsbewusst zu minimieren.
Auch in unserem Konzertchor des Städtischen Musikvereins gab es verschiedene Phasen, für deren Probenchancen sich Vorstand und künstlerische Leitung vieles einfallen ließen, um den Sängerinnen und Sängern zumindest einen verantwortbaren Teil ihrer musischen Betätigung zu erhalten, zu sichern oder zurückzugewinnen. Das reichte von erzwungener und akzeptierter Probenabstinenz über kammerchoristisch besetzte Open-Air-Singstunden im Sommer nach dem ersten Lockdown über online-vorbereitete und musiktheoretisch am PC geschulte Kleingruppenproben des Oratoriums „Saul“. Nach erneuter Lockerung konnte das Singen in zugluftig kalten Räumen nach tagesaktueller Schnelltestprüfung bis zur letztendlich geglückten Aufführung dieses wiederentdeckten Werkes unter strengen Sicherheitsvorkehrungen erfolgen. Jetzt begann wieder eine Phase der online-Proben, mit denen das Sommerkonzert mit Werken von Felix-Mendelssohn-Bartholdy und seiner Schwester Fanny Hensel vorbereitet wird.
Fast jeder von uns wird gefragt, wie dann das gehen soll: eine CHORprobe am heimischen PC, Notebook oder Laptop. Die Feststellung, dass sich Gesangsstimmen unter diesen Bedingungen nicht koordinieren oder synchronisieren lassen, rennt als skeptisches Argument bei den so befragten (und dabei großenteils Saul-erfahrenen) SängerInnen offene Türen ein. Natürlich ist an ein gemeinsames Singen nicht zu denken , aber ein MITSINGEN der gerade das eigene Mikro sperrenden Probenpartner schon. Jeweils 4-5 Soprane, Altistinnen, Tenöre (incl. zweier Tenösen) und Bässe sind für eine Stunde eingeladen, vorab allein an zu Hause geübten Chorsatzstimmen der Oratorien mit Prof. Dennis Hansel-Dinar bzw. Constanze Pitz oder Grant Sung musikalisch zu arbeiten. Der Chordirektor hat dazu die Chorpartitur eingerichtet, dynamisch konkretisiert und als eine von ihm vielstimmig gespurt eingesungene Probeaufnahme ins Netzt gestellt.
Es gehört Disziplin und Fleiß dazu, diese wöchentliche Aufgabe ernsthaft anzugehen, damit in der wertvollen Zeit am Screen nicht erst die richtigen Töne gelernt werden müssen, sondern falsch eingeprägte korrigiert und musikalisch geformt werden können. Und wenn das eigene Mikro freigeschaltet wird, ist es immer aufregend, den Mitübenden und dem Chef zeigen zu müssen, wie sauber, wie engagiert und wie musikalisch man seinen solistischen Anteil am später chorischen Klang einzubringen vermag. Es gibt keine Nebenfrau oder keinen Nebenmann, an deren/dessen Atmen man den eigenen Einsatz orientiert, deren/dessen richtiger Anfangston zur Selbstkontrolle dienen könnte oder deren/dessen Tempo man mitgehen oder selbst forcieren kann.
Meine Erfahrungen bestätigen den Eindruck vieler, dass das unter diesem Umständen Lampenfieber weit stärker ist als jenes, das dann bei der geprobten Aufführung - im den Zustand hervorrufenden Scheinwerferlicht - als Voraussetzung der Konzentration entstehen wird und muss.
Natürlich ist jede Chorprobe ein meist beglückendes sozialkulturelles Ereignis. Das kann es für die „zusammengezoomte“ Kleingruppe nur bedingt sein. Aber schon das gemeinsame Warten der Parallelgruppen auf Einlass in den virtuellen Probenraum gibt die Chance zum Smalltalk, der sich fast immer ums Singen dreht.
Für die Organisatoren dieser 10 Gruppen, die an drei Tagen IHRE Probe haben, sind das gewaltige Aufgaben, denn die Vorstandsmitglieder sind keine online-Profis! Die freundliche Geduld der künstlerischen Leiter, die es schaffen, hohe Erwartungen mit dem Verständnis für die auf sehr unterschiedlichen Vorbereitungsmöglichkeiten beruhender Souveränität zu verbinden, sorgt dafür, dass bisher keiner aufgegeben hat. Sie wissen, dass erfahrene Blattsänger oder Instrumentalisten neben Sängerinnen und Sängern sitzen, deren später im Chor gute und sichere Stimme weit mehr Zeit braucht, die Töne und die Rhythmen zu lernen, wobei das Singen nach Noten eine Lernaufgabe für jedermann bleibt.
Der große Erfolg mit dem schwierigen „SAUL“ hat gezeigt, dass sich diese außergewöhnliche und erzwungene Form des Probierens gelohnt hat, denn jeder beherrschte seinen Part, den er ohne nachbarschaftliche Assistenz lernen und verinnerlichen musste. Dazu wünsche ich uns TOI TOI TOI. Gleiches auch dem Verfasser des Programmheftes zum Konzert, der sich nämlich wünscht, den in der Annotation noch vermerkten Bezug zur verheerenden Choleraepedemie in Berlin zur Zeit von Fanny Hensels Arbeit am Oratorium (1831) streichen zu können, weil sich der Gegenwartsbezug erledigt hat …
Karl-Hans Möller am 2.2.2022