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Singen mit Maske?

Unserem Mitglied Hermann Oehmen verdanken wir diesen Beitrag.

F.A.Z. - FEUILLETON

Notfalls mit Maske singen

Die Musikermediziner Claudia Spahn und Bernhard Richter über Aerosole

Claudia Spahn und Bernhard Richter leiten das Freiburger Institut für Musikermedizin (FIM) an der Hochschule für Musik und der Uniklinik Freiburg. Sie beschäftigen sich seit Monaten mit der Abklärung von Risiken einer Infektion mit dem Corona-Virus beim Musizieren und sind selbst (als Pianistin und Sänger) auch ausübende Musiker. F.A.Z.

Sie haben, um die Gefahr einer Covid-19-Infektion beim Musizieren besser einschätzen zu können, bei den Bamberger Symphonikern Anfang Mai Untersuchungen vorgenommen, deren Ergebnisse relevant für die Wiederaufnahme des Proben- und Spielbetriebs der Orchester werden könnten. In mehreren Medien, auch hier, ist es dabei zu dem Missverständnis gekommen, Sie hätten die Ausbreitung von Aerosolen bei Blasinstrumenten und bei Sängern gemessen. Was haben Sie tatsächlich untersucht?

Bernhard Richter: Was wirklich untersucht wurde, war die Ausbreitung von Luft bei Sängern und Bläsern – und zwar qualitativ und quantitativ. Für die Messungen wurde von den Bamberger Symphonikern das Ingenieurbüro Tintschl Bio Energie- und Strömungstechnik beauftragt. Wir waren als musikermedizinische Beobachter dazu geladen. Es wurden zwei Verfahren angewendet. Einmal ein Bühnennebel, der von der Tröpfchenkonfiguration her einem Aerosol ähnlich ist. Dieser wurde um die Sänger und Bläser herum ausgebreitet. Dabei konnte man beobachten, inwieweit dieser Nebel beim Musizieren verwirbelt wird. Bei den meisten Blas- und Singvorgängen waren kaum Luftbewegungen sichtbar, mit Ausnahme der Flöteninstrumente und der Artikulation von Konsonanten der Sänger. Außerdem wurden die Luftgeschwindigkeiten in definierten Abständen mit Messsonden erfasst. Das Ergebnis war, dass im Abstand von zwei Metern keine Veränderungen mehr messbar sind. Bei den meisten Messungen waren auch schon in geringerem Abstand keine Veränderungen mehr messbar, aber aus Sicherheitsgründen haben wir dann zwei Meter als Mindestabstand in unserer Risikoeinschätzung angegeben.

Claudia Spahn: Die Untersuchungen fanden am 5. Mai statt. Und die zuständige Unfallversicherung empfahl in ihren Richtlinien zu diesem Zeitpunkt viel größere Abstände, teilweise bis zu zwölf Metern. In dieser Situation war es sehr wichtig, die intuitive Annahme zu widerlegen, beim Singen und Blasen würden große, gezielte Luftstrahlen entstehen, die potentiell infektiöse Partikel über weite Entfernungen hinweg im Raum verteilen könnten. Die Motivation der Bamberger Symphoniker und anderer Orchester war es zu zeigen: So ist es nicht! Nun muss man allerdings differenzieren zwischen der Messung von Luftströmungen und der Ausbreitung von Aerosolen. Es gibt in der Luft schwerere Partikel, die Tröpfchen, die größer als fünf Mikrometer sind, und die leichteren, die Aerosole. Die Tröpfchen fallen recht schnell zu Boden und erreichen in einem Radius von anderthalb, maximal zwei Metern eigentlich niemanden mehr. Die Aerosole sind so leicht, dass sie in der Raumluft schweben können und sich auch über größere Distanzen weiterbewegen können. Mit der Abstandsregel allein sind sie also nicht zu kontrollieren, allerdings gilt das generell und nicht speziell für Musiziersituationen.

Erlauben denn die Messungen von Luftströmungen einen Rückschluss auf die Aerosolausbreitung?

Richter: Nicht direkt, und das ist das große methodische Problem, das wir im Moment alle haben. Das Robert Koch-Institut hat ja drei Infektionswege benannt: Am Anfang hat man hauptsächlich von der Tröpfcheninfektion und von der Kontaktinfektion, der sogenannten Schmierinfektion, gesprochen. Inzwischen hat das RKI seine Einschätzung dahin gehend geändert, dass auch die Aerosole als dritter, wichtiger Infektionsweg ernst zu nehmen seien. Die Messung von Aerosolen ist deswegen so schwierig, weil diese Schwebeteilchen in der Luft weder sicht- noch fühlbar sind. Wir führen hier fast täglich Telefonate mit Ingenieurbüros und anderen Wissenschaftlern, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Bislang helfen wir uns mit Computersimulationen wie von Ville Vuorinen von der Aalto-Universität Helsinki, die Hypothesen zur Aerosolausbreitung im Raum formulieren. Das sind aber erstens reine Annahmen, und zweitens kann niemand sagen, wie hoch die Virenkonzentration in diesen Aerosolen ist.

Ihr Kollege Eckart Altenmüller hat jüngst wegen der vermutlich hohen Aerosolausbreitung eindringlich vor Chorproben gewarnt. Muss man aufgrund der Neubewertung der Aerosole durch das RKI die Risikoeinschätzung zum gemeinsamen Singen revidieren?

Richter: Das denken wir nicht, weil wir unsere Risikoeinschätzung vom 19. Mai schon aufgrund der drei genannten möglichen Infektionswege getroffen haben. Wo wir mit Eckart Altenmüller völlig einer Meinung sind, ist die Tatsache, dass wir nicht sofort zur Normalität vor der Corona-Pandemie zurückkehren können.

Spahn: Wir haben dazu einen differenzierten Maßnahmenkatalog ausgearbeitet, um das Risiko einer Infektion durch eine Aerosolausbreitung beim Proben in geschlossenen Räumen zu reduzieren. Wir müssen ja irgendwie den Spagat schaffen zwischen Infektionsschutz und dem Fortleben unserer Musikkultur – das versuchen jetzt auch die Verantwortlichen der Salzburger Festspiele. Am Anfang steht eine genaue Risikoanalyse, zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Infektions- und Erkrankungsrisiko. Wir haben vorgeschlagen, dass man eine sogenannte Incoming-Kontrolle macht: Sind die Leute, die einen Raum betreten, wirklich symptomfrei, gehören sie einer Risikogruppe an? Bei den Aerosolen brauchen wir strenge Regeln für die Raumlüftung: alle fünfzehn Minuten Stoßlüftung! Ansonsten empfiehlt es sich, wo es nur möglich ist, ins Freie zu gehen. Denn allen Untersuchungen über Infektionswege zufolge ist die Ansteckung im Freien am geringsten, auch wenn es selbst da keine völlige Ausschaltung von Risiken gibt. Aber auch in geschlossenen Räumen bei strengen Lüftungsregeln müssen die Sicherheitsabstände – radial mindestens zwei Meter um eine Person herum – eingehalten werden. Da die Größe des Raumes und die Anzahl der Menschen in einem Raum auch wichtige Einflussfaktoren sind, bedeutet dieser Abstand automatisch, dass nicht viele Menschen in einem kleinen Raum gleichzeitig musizieren können.

Das erschwert Chorproben erheblich.

Richter: Wenn man keine Maßnahmen trifft, würde das ja bedeuten, dass gemeinsames Singen in Gruppen praktisch unmöglich ist. Wir schlagen vor, das neu zu organisieren: kleinere Gruppen, kürzere Zeiten, große Räume – und Masken tragen! Das wird gerade kontrovers diskutiert. Einige sagen: Mit Maske zu singen, das sei ganz unmöglich. Andere berichten, das ginge ganz gut. Wir selbst haben das ausprobiert: Maske auf, Maske ab – man hört subjektiv kaum einen Unterschied, und man kann damit singen, das ist eine Frage der Gewohnheit. Somit hätte man für den Fremd- und den Eigenschutz schon etwas getan. Die chirurgischen Masken, die man jetzt überall sieht, sind ganz sinnvoll im Fremdschutz, im Eigenschutz weniger sicher.

Sind denn Laienchöre atemtechnisch stärker gefährdet als Profichöre?

Richter: Da spielen Sie auf den Umstand der tiefen Einatmung beim Singen an. Es gibt dazu kaum wissenschaftliche Untersuchungen. Laienchöre haben sicher das Problem, dass nicht jede Einzelstimme so gut trägt, dass man die Abstandsregeln gut in die Probenarbeit integrieren könnte. Bei Profichören ist im Grunde jeder ein Solist und zugleich in der Lage, sich an den Chorklang nach Maßgaben des Dirigenten oder des Stücks anzugleichen. Die können also mit zwei Meter Radialabstand viel besser umgehen. Der Atmungsparameter hingegen ist momentan nicht befriedigend geklärt. Da sind weitere Untersuchungen dringend nötig.

Sie sprachen von Ingenieurbüros und anderen Wissenschaftlern. Mit wem arbeiten Sie derzeit zu Fragen des Infektionsschutzes zusammen?

Richter: Wir haben am Universitätsklinikum Freiburg eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe gebildet. Unser Virologe ist dabei, die Kollegen von der Hygiene und dem Infektionsschutz sind dabei, ebenso unser Kollege aus der Anästhesiologie und der Intensivmedizin, der sehr viel über Atemvorgänge weiß.

Spahn: Gleichzeitig sind wir als Institut der Hochschule für Musik Freiburg eng mit den Vorgängen im professionellen und im Laienmusikbereich verbunden. Das alles hat uns ermöglicht, die Risikoeinschätzung so fundiert wie möglich zu erstellen, und es gibt uns die Chance, weitere wissenschaftliche Untersuchungen zu starten, um wenigstens einen Teil der vielen offenen Fragen besser beantworten zu können. Wir sehen die Zukunft in einer flexiblen Risiko- und Maßnahmen- anpassung. Österreich geht gerade diesen Weg, da sich das Land so stark über die Kultur definiert. Allerdings sind die epidemiologischen Zahlen dort schon länger stabil. Für die Zukunft wäre aus unserer Sicht eine Flexibilisierung der Maßnahmen im Musikbereich wünschenswert, die immer wieder neu – auch regional – an die Infektionsrisiken angeglichen werden müssen.

Das Gespräch führte Jan Brachmann.

Beitragsbild: Manfred und Franzis Hill bei der Goldenen Hochzeit am 11.4.2020