Es sind bewegte Zeiten, in denen der Chor des Städtischen Musikvereins mit Werken von Mozart und Haydn beim diesjährigen Menschenrechtskonzert der Tonhalle Düsseldorf zum Einsatz kommt.
Mit kurzen Werkeinführungen zu „Ave verum“ und „Missa in angustiis“ sowie einem Portrait des Preisträgers wollen wir unsere Leserinnen und Leser auf das Konzert vorbereiten.
Wann wer zuletzt - zuerst - wie oft?
Einer solchen Frage, wann die Düsseldorfer Symphoniker ein Stück zuletzt gespielt haben, wenn es aktuell wieder auf dem Programm steht, begegneten wir erst kürzlich bei der Aufführung von Zoltan Kodalys Psalmus Hungaricus. Im Programm der Tonhalle ist dazu vermerkt: zuletzt gespielt am 16.12.1955 unter der Leitung von Eugen Szenkar mit Set Svanholm als Tenor und dem Chor des Städtischen Musikvereins. Von den drei genannten kennen die wenigsten den Dirigenten, noch weniger den Solisten, fast alle aber den Chor. Immerhin kann man den Eintrag im Programmheft hier nachprüfen.
Ganz ähnlich kann man also vorgehen, wenn man wissen will, wann denn der Chor zuletzt, wann zuerst und wie oft zwischendurch und unter welcher Leitung er Mozarts „Ave verum“ gesungen hat: An die letzte Aufführung vor etwas mehr als 13 Jahren werden sich einige noch erinnern können: Im Oktober 2012 fand ein dreimaliges Sternzeichenkonzert statt mit der Aufführung des Fauré-Requiems unter der Leitung von GMD Andrey Boreyko. Dass es aber beim ersten der drei Konzerte am 26.10.2012 - offensichtlich als vorbereitete Zugabe! - auch das „Ave verum“ von Mozart gesungen wurde, daran erinnerte ich mich nicht mehr, fand es aber in der entsprechend sortieren Homepage-Liste auf der erwähnten Seite unserer Homepage. Und da sind noch 13 andere, viel weiter zurückliegende Aufführungen gelistet.
Die erste, 1834, leitete der vom Judentum ins evangelische Christentum konvertierte Felix Mendelssohn Bartholdy als Düsseldorfer Musikdirektor in der katholischen Maxkirche, vermutlich innerhalb eines Gottesdienstes, wohin, wie wir noch sehen werden, das Stück unbedingt gehört. Die nächsten Aufführungen 1847, 48 und 50 leiteten seine Nachfolger Ferdinand Hiller und Robert Schumann. Julius Tausch, der in jenen Jahren Robert Schumann als Dirigent und Chorleiter immer öfter vertrat und später auch seine Stelle als GMD einnahm, führte das kleine Stück zwischen 1855 und 1884 mehrfach auf, am 1. Februar 1855 übrigens zusammen mit Mendelssohns „Verleih uns Frieden“, das der Chor noch in aktueller guter Erinnerung hat.
Der Text und sein Ursprung
Dieser lateinische Gebets-Text ist uralt. Unsere altsprachlichen Gäste vom Görresgymnasium liefern uns frei Haus folgende wörtliche Übersetzung für die paarweisen Zweizeiler:
Ave, ave, verum corpus, natum de Maria virgine, vere passum immolatum in cruce pro homine, cuius latus perforatum unda fluxit et sanguine esto nobis praegustatum in mortis examine, in mortis examine! |
Sei gegrüßt, wahrer Leib, geboren von Maria, der Jungfrau, der wahrhaft litt und geopfert wurde am Kreuz für den Menschen; dessen durchbohrte Seite von Wasser floss und Blut: Sei uns Vorgeschmack in der Prüfung des Todes! |
Den letzten Vers der Hymne – "O Jesu dulcis! O Jesu pie! O Jesu fili Mariae." – "Oh süßer, frommer Jesus, Mariä Sohn" – hat Mozart aus unbekannten Gründen weggelassen und nicht vertont.
Der Fund eines Textfragmentes in der Mainzer Martinus-Bibliothek hat vor einigen Jahren bewiesen, dass der Text des Gebets schon im 13. Jahrhundert bekannt und verbreitet gewesen ist, wie das Bistum Mainz 2019 mitteilte. Die Handschrift sei Teil eines Gebetbuches für eine Frau. Das Doppelblatt enthält demnach den lateinischen und den deutschen, wohl rheinfränkischen Text des „Ave verum".
Im 15. und 16. Jahrhundert war das "Ave verum" eines der gebräuchlichsten stillen Gebete zur Vorbereitung auf die Kommunion während der Messe. Es wird zur sogenannten Elevation - der Erhebung der gewandelten Gaben von Brot und Wein - während der Eucharistiefeier gebetet. Benannt ist es nach den ersten Worten: "Ave verum - corpus natum" - "Sei gegrüßt - wahrer Leib." Entsprechend der christlichen Glaubenslehre betrachtet der Text die leibliche Gegenwart des Heilands in der Eucharistie. Die letzten Zeilen - esto nobis praegustatum in mortis examine also: sei uns Vorgeschmack vielleicht besser: Vorbild in der Prüfung des Todes - verweisen auf das Vorbild des sterbenden Erlösers für seine gläubigen Nachfolger, sicher ein Grund, dass oft Hinterbliebene seine besinnliche, entspannende und zuletzt tröstliche Vertonung als musikalische Begleitung für Trauerfeiern wählen.
Nach den Quellen wurde der Text schon im Mittelalter viel gesungen, hatte also schon damals eine Melodie. Viele Komponisten vertonten den Text, darunter Josquin Desprez (1521), Orlando di Lasso (1594), William Byrd (1623), Wolfgang Amadeus Mozart (1791), Franz Liszt (1868), Charles Gounod (1893), Camille Saint-Saëns (1921), Edward Elgar (1934), Francis Poulenc (1963), Karl Jenkins (Jg. 1944) und György Orbán (Jg. 1947).
Mozarts Umgang mit der Textvorlage
Die heute bekannteste und am häufigsten aufgeführte Vertonung ist das Ave verum corpus (KV 618) von Wolfgang Amadeus Mozart. Seine Fassung gab der alten Sequenz weite Verbreitung auch außerhalb kirchlicher Anlässe. Seiner wunderbaren Komposition ist ihre Verbreitung in alle Welt zu verdanken, ob Dom oder Dorfkirche, Konzertsaal oder Aula.
Mozart hatte zeitlebens viel Kirchenmusik geschrieben, die kurzen Messen für den Salzburger Erzbischof Coloredo, darunter die Krönungsmesse, die im Rahmen der Krönungsfeierlichkeiten für Kaiser Franz II., dem wir noch an anderer Stelle wieder begegnen werden, zum ersten Mal verwendet worden sein dürfte. Wir hier erinnern uns gerne an die Aufführungen dieser Messe unter der Leitung von Neville Marriner im Dezember 2013! Manche von uns kennen auch seine Vespern und Litaneien, und vor allem sein Requiem, das der Musikverein mehr als 30-mal im Programm hatte, zuletzt noch vor knapp einem Jahr beim Menschenrechtskonzert 2023.
Das „Ave verum“ für vier Stimmen, 2 Violinen, Viola, Bass und Orgel entstand in Mozarts Todesjahr aus Anlass des Fronleichnamfestes am 17. Juni 1791 in Baden bei Wien, wo Mozarts Frau Constanze sich im neunten Ehejahr auf ihre sechste Niederkunft vorbereitete. Sie wohnte bei Anton Stoll, dem Chorleiter des Badener Kirchenchors, der die Motette dafür als Geschenk annahm. Ein Jahr später komponierte auch Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr ein Ave verum corpus für Anton Stoll.
Diesem Chordirigenten und eifrigen Verehrer Mozarts, der immer um Aufführungen Mozartscher Werke in der Provinz bemüht war, stand bei der Uraufführung der Mozart‘schen Version leider nur ein mittelmäßiger Kirchenchor zur Verfügung.
Dem inhaltlichen Ernst der Motette begegnete Mozart in seiner zweiten eher spöttischen Natur und quittierte sein Hörerlebnis auf gewohnt läppische Art in einem Brief so:
„Liebster Stoll, bester Knoll! Grösster Schroll! Bist sternvoll! Gelt das Moll tut dir wohl!"
Oder noch deutlicher:
„Das ist der dümmste Brief, den ich geschrieben habe, aber für sie ist er just recht."
Im BR-Klassik-Podcast vom April 2023 ist von DIESSEITSFREUDE UND WISSEN UM DAS JENSEITS die Rede.
Die geringschätzig anmutenden Worte hat Mozart durch Geschenke an Anton Stoll wieder wettgemacht. Er überließ ihm mehrere seiner Handschriften, darunter auch das "Ave verum". Dennoch: Der Kontrast zwischen der tief empfundenen Aura der Musik und den frech-gewitzten Worten seiner Briefe mutet vielleicht seltsam an. Aber es wäre nicht Mozart, wäre da nicht Witz neben Ernst, verspielte Diesseitsfreude neben dem Wissen um das Jenseits. Und vielleicht liegt gerade hier, in Mozarts Auffassung vom Jenseits, der Schlüssel zu der fast mystischen Wirkung des "Ave verum corpus". Ein anderer, vier Jahre zurückliegender Brief bekräftigt diese Einschätzung.
Am 4. April 1787 schrieb Mozart - nach langem Stillschweigen - folgenden Brief an seinen kranken Vater:
"Mon très cher père!
Diesen Augenblick höre ich eine Nachricht, die mich sehr niederschlägt. Nun höre ich aber, dass sie wirklich krank seien! Wie sehnlich ich einer tröstenden Nachricht von Ihnen selbst entgegensehe, brauche ich Ihnen doch wohl nicht zu sagen; und ich hoffe es auch gewiss – obwohl ich es mir zur Gewohnheit gemacht habe, mir immer in allen Dingen das Schlimmste vorzustellen – da der Tod (genau zu nehmen) der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes! [...] Sollten Sie aber wider alles Vermuten nicht besser sein, so bitte ich Sie, mir die reine Wahrheit zu schreiben, damit ich so geschwind als es menschenmöglich ist, in Ihren Armen sein kann; ich beschwöre Sie bei allem was – uns heilig ist."
Dass sich Wolfgang Amadeus Mozart – gerade mal 31 Jahre alt – so intensiv mit dem Tod befasst, ist ungewöhnlich. Ob er wohl ahnt, dass er selbst nur noch wenige Jahre zu leben hat? Oder liegt ihm etwas an einer Aussöhnung mit dem Vater? Über eine Antwort des Vaters ist nichts bekannt. Jedenfalls wird Wolfgang ihn nicht mehr wiedersehen. Leopold Mozart stirbt wenige Wochen später - am 28. Mai 1787 - in den Armen seiner Tochter.
Die musikalische Umsetzung
Mozarts Komposition ist ein Musterbeispiel für die unmittelbare Wirkung von Musik, es ist ein Stück, das mit wenigen Takten eine Aura des Friedens verströmt. Die besondere Aura, die Unmittelbarkeit der Musik, rührt von der Einfachheit ihrer Struktur. Mozart verzichtet auf kompositorische Komplexität. Stattdessen: klare symmetrische Formen, homophoner Chorsatz, sparsamer Gebrauch von Dissonanzen, Spannungen. Musiker wie Hörer werden vom Text nicht abgelenkt.
Entsprechend der unterschiedlichen Bedeutungsgehalte schafft Mozart eine sich langsam verändernde Musik. Der Beginn, zart und wiegend,
zunächst die Anrufung Christi:
"Sei gegrüßt, wahrer Leib, geboren von der Jungfrau Maria."
Beim Thema Kreuzigung erste Eintrübungen, Vorhalte, leise Dissonanzen:
"Du hast wahrhaft gelitten und wurdest für die Menschheit am Kreuz geopfert."
Anschließend Worte über das Leid Jesu am Kreuz -gesteigerte Expression bei den Worten
"Wasser und Blut floss aus deiner Seite, als man sie durchstach."
Und schließlich die Bitte um Trost und Erlösung:
"Sei uns Trost in der Prüfungsstunde des Todes."
„Da ist der Schlüssel, da fühlt man, dass da der Boden unter den Füßen weggeht, fast unmerklich, aber umso eindringlicher, ein Moment musikalischer Verunsicherung“, resümiert Peter Dijkstra, Leiter des Chores des Bayrischen Rundfunks.
In seiner Mozart-Biographie von 1945 beschreibt Alfred Einstein das Ave verum so: „Es ist kunstvoll und liedhaft zugleich; es ist ebenso tief wie einfach; es wahrt zugleich den Abstand vor dem Göttlichen, die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, und ist voll Vertrauen und Reinheit des Gefühls, man möchte sagen: voll Zutraulichkeit.“
Und der Musikkritiker Alfred Beaujean fasst es im Harenberg-Konzertführer so zusammen: „Die kleine, kaum vierminütige Komposition bedeutet „höchste Meisterschaft und Vollendung bei scheinbarer Einfachheit. Die kunstvolle Modulatorik verbirgt sich hinter dem schlicht-tiefen Ausdrucksgehalt dieser verinnerlichten Devotionsmusik.“
Freuen wir uns als Chor beim Menschenrechtskonzert 2024 - vor der eher aufrührenden Haydn-Messe „in angustiis“ - auf vier Minuten beseelenden Wohlklang, der uns und unsere Zuhörer erfüllen wie ergreifen möge.
Georg Lauer am 15. Januar 2024