Beethovens 9. Symphonie steht auf dem Programm des Menschenrechtskonzert. In diesem Jahr geht der Menschenrechtspreis der Tonhalle an den türkischen Bürgerrechtler und Kulturförderer Osman Kavala, der seit mehr als vier Jahren in Haft sitzt. Aber seit dem 22. Februar erleben wir nach 77 Jahren Frieden in Europa einen Krieg vor der Haustür. Und nahezu jeder im Musikverein spürt, dass die Neunte gerade jetzt gespielt und gesungen werden muss.
„Ich habe gefunden“, sagte er, „Es soll nicht sein“.
„Was, Adrian, soll nicht sein?“
„Das Gute und Edle“, antwortete er mir, „was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündet haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.“
„Ich verstehe Dich, Lieber, nicht ganz. Was willst Du zurücknehmen?“
„Die neunte Symphonie“, erwiderte er. Und dann kann nichts mehr, wie ich auch wartete.
Thomas Mann: Doktor Faustus. S. 634
Diese Bilanz seines lebenslangen Ringens um das Wesen des Menschlichen lässt Adrian Leverkühn, dessen Lebensweg als „Tonsetzer“ den Höhenflug des deutschen Geisteslebens im 19. und 20. Jahrhundert bis hin zur Katastrophe des Zweiten Weltkrieges symbolisiert, in das apokalyptische Oratorium „Dr. Fausti Wehe-Klag“ einfließen. In dem Leitsatz „Es soll nicht sein“ ist die negative Verwandtschaft, der schärfste denkbare Gegensatz zu den Varianten des Jubels in Beethovens Neunter dokumentiert. Am Ende des Romans steht die Hoffnung auf Gnade im Augenblick tiefster Zerknirschung.
Aber Thomas Manns Prophezeiung bewahrheitete sich nicht. Die neunte Symphonie erklang auch, nachdem das ganze Ausmaß des Zusammenbruchs und der Gräuel zu Tage getreten war, z. B. Silvester 1945/46 im Gewandhaus zu Leipzig unter Arthur Nikisch. Nikisch setzt damit eine Tradition fort, die er selbst in der Silvesternacht 1918/19 in Leipzig begründet hatte und die unter der Naziherrschaft zwölf Jahre ausgesetzt wurde. Die Sehnsucht der Menschen nach grenzüberschreitender Brüderlichkeit scheint also nie erloschen, sondern eher stärker geworden zu sein. Nicht ohne Grund wählte der Europarat 1972 den Schlusssatz der Neunten zum Hymnus der europäischen Gemeinschaft.
Übt die Idee des Weltfriedens als Ergebnis menschlicher Verbundenheit allein die Faszination aus, der sich niemand entziehen kann, der die Neunte gehört oder musiziert hat?
Zwei weitere Aufführungsanlässe fügen der Wirkungsmacht einen weiteren Aspekt hinzu. 1905 erklang bei einer Gedenkfeier für die gefallenen der Märzrevolution 1848 im 100. Todesjahr Schillers vor 3000 begeisterten Arbeitern in Berlin die neunte Symphonie. Die Erklärung liegt nahe, dass damit die Arbeiterbewegung ihren Anspruch auf Teilhabe an jenem Kulturerbe dokumentiert, mit dem sich das deutsche Bürgertum in aller Welt schmückt. Aber die Worte, mit denen der Marxist Hanns Eisler 1927 Beethoven würdigt, weisen in eine andere Richtung:
„Er war kein Komponist des Proletariats, und doch gehört seine Musik uns, der aufsteigenden Arbeiterklasse, nicht aber der Bourgeoisie. Beethoven lebte zu einer Zeit, wo erst die bürgerliche, nicht die proletarische Revolution zu vollbringen war. Aber den gewaltigen Schwung (…) der jungen starken, zuversichtlichen [französischen] Revolution, den hat dieser Ludwig van Beethoven gekannt, verstanden, begrüßt und in Töne eingefangen.“(Geck 340)
Also sollte mit der Neunten nicht Kulturgut adaptiert werden mit dem Ziel, dazu gehören zu wollen, sondern die Musik sollte das revolutionäre Bewusstsein wachhalten. Spendet nicht die Utopie des Schlusssatzes Hoffnung auf eine bessere Zukunft, jenes tröstende Gefühl dafür, dass der Tod der Aufständischen von 1848 nicht umsonst war? Die „Tonmassenschlacht“ (Ferdinand Lasalle) entzieht sich der Analyse eines der bürgerlichen Bildung fernstehenden Publikums, der Wirkung des Schlusses im Sinne eines „Es war nicht alles umsonst.“ konnte sich niemand verschließen. Die Neunte dient hier als Orientierungsmarke inmitten einer Gegenwart, die man im Gedenken der Toten als historischen Rückschritt empfinden musste.
Mit der Gründung der DDR glaubte die Arbeiterbewegung ihrem Ziel entscheidend näher gekommen zu sein. Die Proletarier vieler, wenn auch nicht aller Länder, waren trotz unterschiedlicher Staaten vereint. Im Sinne von Eislers trotzigem Besitzanspruch „doch gehört seine Musik uns“ reiht man Beethoven in die Ahnengalerie der Avantgardisten jener neuen Welt ein, die zum Greifen nah schien. In den 40 Jahren deutscher Teilung gab es in der DDR 478 Aufführungen der 9. Symphonie. Dreimal bis 1964 ersetzte „Freude, schöner Götterfunken“ die - politischen - Hymnen der beiden deutschen Staaten bei den olympischen Spielen, wobei die Bürger der Bundesrepublik im Sinne eines auch kulturell verstandenen Alleinvertretungsanspruchs Beethoven als einen der ihren beanspruchte, während die DDR „Seid umschlungen Millionen…“als Ausdruck ihres politischen Sendungsbewusstseins verstand.
Und so war es logisch und folgerichtig, dass Leonard Bernstein zur Weihnacht 1989 das „Alle Menschen werden Brüder“ im Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt in Berlin dirigierte und den Text von „Freude“ in „Freiheit“ wandelte. Beethovens 9. wurde somit zur Hymne der deutschen Einheit und erklang zum 25. Jahrestag des Mauerfalls am Brandenburger Tor.
Dennoch ist die 9. Symphonie keine programmatische Musik. Sie ist in ihrem Ursprung eine zutiefst individuelle Äußerung eines durch seine Taubheit auf sich zurückgeworfenen Genies. Und nur so lässt sich die immer neue Berührung erklären, die auch und gerade Menschen erspüren, deren Lebenserfahrung nicht durch emotional aufwühlende Ereignisse geprägt ist, die vom Pathos großer Zeiten nicht erregt sind. Der Solist eröffnet den vierten Satz mit den Worten „O Freunde, nicht diese Töne!“. Vorangegangen sein muss etwas, das – würde es fortentwickelt – in die falsche Richtung führt.
Der Musikwissenschaftler Martin Geck(1936 – 2019) vergleicht die 4 Sätze der Symphonie mit der Abfolge der Weltalter in Ovids Metamorphosen. Aus der Gegenwart eines eisernen Zeitalters blickt der Dichter elegisch trauernd auf eine goldene, silberne und bronzene Vergangenheit zurück. Bei Beethoven aber bildet die Schreckensfanfare zu Beginn des vierten Satzes eine Zäsur. Der Solist schaltet sich als „auktorialer Komponist“ vergleichbar dem auktorialen Erzähler im Roman in das musikalische Geschehen ein und fordert unter Einladung der menschlichen Stimme Neues ein. Das letzte Zeitalter ist nicht mehr das vom goldenen entfernteste eiserne, sondern die menschliche Vision einer Utopie, entfacht durch den Funken göttlichen Feuers. Das Irrationale, das mit dem Begriff „Utopie“ (wörtlich: kein Ort, also „Nirgendland“) verbunden ist, wird aufgehoben durch die beiden Intervalle am Anfang der Symphonie, die in einer Oktav den Klangraum aller musikalischen Tonsprünge umspannen. Der vierte Satz, der verkündet, was es noch nicht gibt, vereint sich mit den vorangehenden Sätzen zu einem Ganzen. Der Kerngedanke einer radikalen Aufhebung kulturell gesetzter Grenzen mit dem Ziel einer allumfassenden Harmonie genannt Brüderlichkeit schlägt in den 200 Jahren seit der Uraufführung alle in den Bann, die mit dieser Musik in Berührung kommen.
Udo Kasprowicz am 19.3.2022