Hin- und Einführungen in den Inhalt und das musikalische Geschehen von Joseph Haydns einziger Messe in einer Molltonart finden Sie in einschlägigen Musiklexika oder im weltweiten Netz. Was es mit den dort anzutreffenden Bezeichnungen für diese am 23. September 1798 uraufgeführte Komposition und ihre Beinamen „Nelson-Messe“ und „Messe in Bedrängnis“ auf sich hat, lesen Sie hier.
Viele Musikstücke weisen mit ihrem Namen auf einen Entstehungsanlass, den Auftraggeber oder eine literarische oder bildhafte Quelle hin, die ihnen zugrunde liegt. Solche Bezeichnungen sind zur Einordnung hilfreich (Prager Symphonie, Feuerwerksmusik) und bieten auch Hilfe zum Verständnis (Puppenfee, Schwanensee).
Bisweilen werden wir aber auch irregeführt, weil an den Kompositionen ein Name klebt, der die Phantasie anregt, mit dem Werk aber nichts zu tun hat. Folgen Sie uns auf einem verschlungenen Weg, an dessen Ende eine private Novelle sich mit Weltpolitik verbindet und uns mit ihrem Charme darüber hinwegtäuscht, wie sehr unser Erkenntnisinteresse enttäuscht wurde.
Der Anfang der Geschichte ist eng verwandt mit der Datierung der Grimm´schen Märchen „Es war einmal …“ Ganz ähnlich wollen wir beginnen:
Vielleicht war es 1765, als in einem Ort in der Grafschaft Cheshire im Nordwesten Englands ein Mädchen geboren und einen Monat später schon Halbwaise wurde. Seine Mutter, eine Dienstmagd, zog sie im Hause der Großmutter auf und verschaffte ihr im Alter von zwölf Jahren eine Stelle als Hausmädchen, erst im Heimatort, dann in London.
In den Haushalten ihrer verschiedenen, meist in der Kunst dilettierenden Arbeitgeber lernte sie singen und erwarb Grundkenntnisse in der Schauspielerei und, vor allem, erblühte mit den Jahren zu außergewöhnlicher Schönheit. Junge Adlige der Londoner Gesellschaft strebten danach, in ihrer Begleitung gesehen zu werden. Emma, so nannte sich die als Amy Lyon Geborene inzwischen, wusste die Chance, die in dieser Rolle verborgen war, intelligent zu nutzen. Ein junger Gentleman verliebt sich in sie und wollte das Verhältnis durch Eheschließung legitimieren. Der Aufstand seiner Familie ließ ihn jedoch zurückschrecken; allerdings fühlte er sich für seine 18-jährige Freundin verantwortlich und löst das Problem mit der Eleganz des Rokokozeitalters.
Er stellte sie seinem verwitweten Onkel, Sir William Hamilton, Botschafter der englischen Krone im Königreich beider Sizilien, vor. Der lud sie, von Stimme und Schönheit betört, nach Neapel ein, um dort ihre Gesangsausbildung zu fördern. Sie durchschaute den Schachzug, ergriff aber die unerwartete Chance eines Neuanfangs, in dem sie Italienisch und Französisch lernte und die naturkundlichen Interessen des weltgewandten alten Herrn teilte. Öffentlich reüssierte sie mit der Darstellung von Szenen aus der antiken Mytholog
ie als lebendiges Bild. Goethe ist ganz verzaubert, als er auf seiner italienischen Reise bei Hamilton eingeladen ist. „Man schaut, was so viele 1000 Künstler gerne geleistet hätten, hier ganz fertig, … Der alte Ritter (Hamilton) … hat mit ganzer Seele sich diesem Gegenstand ergeben. Er findet in ihr alle Antiken, (…) ja den Belvederschen Apoll selbst.“ Genauso fasziniert war König Ferdinand I., Herrscher über Neapel und Sizilien, während seine Frau, Maria Carolina, die Wirkung dieser jungen Schönheit auf Männer argwöhnisch beobachtete.
Botschafter Hamilton wollte die Attraktivität seiner Begleiterin diplomatisch nutzen. Er beschloss Emma zu heiraten, um ihr damit die Türen zu einflussreichen Kreisen Siziliens zu öffnen. Beide reisten nach London, erlangten mit einigen Mühen die Erlaubnis des englischen Königs zur Eheschließung und heirateten 1791. Von da an verknüpft sich das Leben des Ehepaares Hamilton mit dem politischen Geschehen in Europa. Sie reisen auf dem Landweg über Paris nach Sizilien. Vielleicht um mit Emmas Anerkennung als Dame der Gesellschaft dort zu beginnen, wo das Königspaar seit Ausbruch der Revolution unter Arrest steht, bittet Hamilton im Palais de Tuileries um Audienz. Tatsächlich gewährt Königin Marie Antoinette Emma eine Unterredung, in der so viel Vertrautheit entsteht, dass die Tochter Maria Theresias ihr einen geheimen Brief an ihre Schwester Maria Carolina von Sizilien übergibt. Dieses Schreiben verschafft ihr in Sizilien sogleich Zugang zur Königin, die ihrer persönlichen Ausstrahlung erliegt und Emma zu ihrer Vertrauten macht.
Inzwischen waren Großbritannien und Spanien in den ersten Koalitionskrieg auf Seiten Österreichs und Preußens gegen Frankreich eingetreten. Die Häfen des Königreichs beider Sizilien, über das mit Ferdinand ein Bruder Karls IV von Spanien herrscht, geraten damit in die Einflusssphäre Englands. Und so kam Horatio Lord Nelson 1793 nach Neapel zu einem kurzen Besuch … und entflammte natürlich für Lady Emma Hamilton. Bis zur Wiederbegegnung sollte es noch fünf Jahre dauern. In der Zwischenzeit standen die beiden in diplomatischem Kontakt, denn Emma hatte von ihrem kränkelnden Mann die politischen Aufgaben übernommen und korrespondierte heimlich mit Lord Nelson, weil die Bündnistreue Karls IV. von Spanien, wie sie von ihrer Freundin Maria Carolina erfuhr, zweifelhaft war. 1798 kehrte Nelson als Sieger von Abukir, wodurch er das Ägypten - Abenteuer Napoleons beendet hatte, nach Neapel zurück und sicherte von dort aus die englische Herrschaft über das Mittelmeer. Die Ideen der französischen Revolution und Napoleons Truppen drangen in der Zwischenzeit auf dem Landweg in Italien vor. Maria Carolina sah ihren Einfluss am Hof schwinden und zieht sich mit den Hamiltons nach Palermo zurück. Als im Jahre 1800 der englische König seinen Botschafter Hamilton aus Altersgründen nach London zurückrief und Lord Nelson seine Kriegsverletzungen in England auskurieren sollte, ergriff die Königin von Neapel und Sizilien die Gelegenheit beim Schopf und schlug eine Reiseroute über Wien vor, um ihre Verwandten zu besuchen. Immerhin herrschte ihr Neffe Franz II. nach dem Tod ihrer Brüder Josef (II.) und Leopold (II.) als Kaiser über das Heilige Römische Reich.
Mit dem berühmten Lord Nelson ging es auf einem russischen Schiff (Bündnispartner) nach Triest, von dort aus dem Triumphzug nach Wien. Hoffen wir, dass Franz II sich am 18. August 1800 über das Wiedersehen mit der Tante gefreut hat, aber die Popularität dieses Lord Nelson würde die Franzosen verärgern und das letzte Bisschen österreichische Unabhängigkeit gefährden, das er sich im schmachvollen Frieden von Campo Formio drei Jahre zuvor mit dem Opfer seiner Tochter Maria Luise, die Napoleon als Gattin einforderte, erkauft hatte.
Also vereinbarte er für den 6. September 1800 mit Fürst Esterhazy einen Besuch in Eisenstadt bei dem berühmten Komponisten und Kapellmeister Joseph Haydn. Der führte zu Ehren des hohen Gastes eine Messe aus dem Repertoire auf, die seither die Nelson Messe genannt wird, obwohl Lord Nelson und seine Freundin (die übrigens zu diesem Zeitpunkt von ihm schwanger war) während des Konzertes an einen Spieltisch zum Kartenspiel wechselten. Gleichwohl erlag auch Haydn der Ausstrahlung Emmas und begleitete in den folgenden Tagen ihren Gesang am Cembalo.
Mit dem Aufbruch von Eisenstadt überlassen wir die Reisegesellschaft ihrem Schicksal und wenden uns der Ursache für die Bedrängnis zu, der die Messe ihren Titel „in angustiis“ verdankt. Die politische Lage zur Zeit ihrer Uraufführung in
der Stadtpfarrkirche zu Eisenstadt am 23. September 1898 rechtfertigt den bedrückenden Namen nicht. Der erste Koalitionskrieg ist beendet. Der Friede von Campo Formio 1797 ist für die österreichischen Militärs und den Kaiser als dem politischen Verantwortlichen sicherlich nicht ehrenvoll. Das letzte Erbe der Verbindung des Hauses Habsburg mit Spanien aus den Zeiten Kaiser Maximilians I, Belgien, und das linke Rheinufer gingen verloren. Ebenso endete mit der Abtretung des Herzogtums Mailand ein konkretes Pfand für den Universalismusanspruch des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reiches. Das Zugeständnis, die Republik Venedig beherrschen zu dürfen, ist dafür kein Trost. Aber die habsburgischen Erblande sind unabhängig geblieben. Und das ist nach den Siegen Napoleons in Oberitalien nicht selbstverständlich. Napoleon fühlte sich vor dem Desaster in Abukir am 1. August 1798 als unbesiegbar. Der Friede von Campo Formio bewahrte Österreich vor der Verwüstung.
So ist die Messe, die sieben Wochen nach dem Sieg Nelsons bei Abukir und ca. elf Monate nach dem Frieden von Campo Formio als Dankesmesse in Erinnerung an eine voraufgegangene Bedrohung uraufgeführt worden. Der Kompositionsauftrag dürfte erteilt worden sein, als die französische Armee nach dem Siegeszug in Oberitalien Österreich in „Bedrängnis“ brachte, weil sie sich auf Leoben in der Obersteiermark zubewegte, wo sich allerdings am 18. April 1897 eine Schlacht mit anschließendem Marsch auf Wien durch einen Vorfrieden hatte abwenden lassen. Wer die „missa in angustiis“ am 6. September 1800 anlässlich des kaiserlichen Besuches in Begleitung des berühmten englischen Gastes ausgewählt hat, ist nicht bekannt. Vielleicht erschien dem Fürsten Esterhazy in diesen Zeiten ein Konzert, das mit dem Appell „dona nobis pacem“ ausklingt, in Anwesenheit eines Kriegshelden angemessen.
Ein Beitrag unseres Mitgliedes Udo Kasprowicz vom 27.1.2024
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