Aktuelles
Adam Fischer ehrt russischen Menschenrechtler

Ádám Fischer ehrt mit dem Menschenrechtspreis 2024 einen mutigen russischen Menschenrechtler

Über die Werke, die der Musikvereinschor am 28. Januar 2024 zusammen mit dem Chor des Görres-Gymnasiums und den Düsseldorfer Symphonikern sowie den Solisten Réka Kristóf, Anna Harvey, David Fischer und Luke Stoker unter der Gesamtleitung von Ádám Fischer beim Menschenrechtskonzert musiziert, haben wir berichtet. Hier folgt noch die Würdigung des Preisträgers Sergej Lukaschewski.

Der Städtische Musikverein zu Düsseldorf hat viele Gründe, stolz darauf zu sein, als Konzertchor seine Heimat in der Tonhalle am Rheinufer zu haben. Die enge Partnerschaft mit den Düsseldorfer Symphonikern hat den Sängerinnen und Sängern schon viele bemerkenswerte künstlerische Erlebnisse unter dem beeindruckenden Sternenhimmel des ehemaligen Planetariums beschert.
Als wir 2014 unter dem Gast-Dirigat Ádám Fischers bei der Aufführung des Mozart-Requiems in Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma mitwirken durften, gab es vielleicht schon den Impuls zur Idee des damals noch zukünftigen Principal Conductors der Düsseldorfer Symphoniker, mit seinem Amtsantritt 2015 jährlich ein Menschenrechtskonzert zu planen, in dessen Rahmen Persönlichkeiten oder Organisationen ausgezeichnet werden, die sich in besonderer Weise für Menschen in Not und Bedrängnis engagieren.
Seit der Spielzeit 2015/16 verleiht Ádám Fischer den Menschenrechtspreis der Tonhalle, dessen 10.000 € von der „Gesellschaft der Freunde und Förderer der Tonhalle“ und der Stadtsparkasse Düsseldorf gestiftet werden. Das Preisgeld wird natürlich helfen, Not zu lindern oder den humanistischen Zielen der Ausgezeichneten zu dienen. Besonders wichtig ist aber, dass der Maestro das Kunstereignis nutzt, um nunmehr bereits zum 9. Mal durch sein eindrucksvolles und emotionales Bekenntnis jenen von ihm vorgeschlagenen Menschen ein Podium zu bereiten, von dem aus sich die Hilfe und Unterstützung vervielfältigen kann.
Beim Googeln näherer Informationen zum diesjährigen Preisträger waren unter dem Stichwort Sergej Lukaschewski unter den ersten 10 Eintragungen 8 mit „Tonhalle“ in Verbindung gebrachte … Wenn man dann davon ausgeht, dass in jedem dieser Artikel neben den Donatoren auch andere Preisträger der Vorjahre erwähnt oder gewürdigt werden, weiß man um die kommunikative Bedeutung dieser Auszeichnung, deren weit verbreitete Anerkennung Düsseldorf der Tonhalle und ihrem Ersten Konzertdirigenten Ádám Fischer zu danken hat. Der Menschenrechtspreis bringt nicht nur engagierte Menschen in den Fokus. Er ist auch ein Spotlight, das Kriege, Diktaturen, Menschenfeindlichkeit, Rassismus und deren Urheber, Demagogen und Nutznießer sichtbar macht.
Das Konzert 2024 folgt der Tradition der Vorjahre, nach der sinfonische Werke gespielt werden, deren Charakter der Trauer, der Klage, der Wehmut Rechnung tragen, aber auch zum Aufbegehren und zur Hoffnung ermutigen. Der Konzertchor war in den vergangenen Jahren u.a. an Brahms‘ „Deutschem Requiem“, Mozarts „Requiem“ und Beethovens „IX. Sinfonie“ beteiligt und freut sich jetzt auf Haydns „Nelsonmesse“.
Die Annotation der Tonhalle merkt an, dass dies die einzige Messe ist, „die Haydn in einer Moll-Tonart verfasste“ und verweist auf deren Entstehung in die „in äußerst unsicheren Zeiten während der Napoleonischen Kriege“ und darauf, dass ihr lateinischer Name »Missa in angustiis« deutlich sagt, „worum es geht: um eine Messe in der Bedrängnis“.
Noch vor einiger Zeit hätte man für einen solchen Zustand – bedrängter oder verweigerter und verletzter Menschenrechte – zwar mehrere, aber doch noch zählbare oder klar verortete Beispiele gefunden. In der Gegenwart wird man von jenen Ungeheuerlichkeiten überrollt. Und sie kommen näher…

Die Kuppel der Tonhalle (Photo credit: Karl-Hans Möller)

 

Ádám Fischer hat sich entschieden, in diesem Jahr einen Menschen zu ehren, der sich seit mehreren Jahrzehnten unter immer schwieriger werdenden Umständen in seiner russischen Heimat für die Sicherung der Menschenrechte einsetzte.
Sergej Lukaschewski war Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums, engagierte sich in der Moskauer Helsinki-Gruppe und bei der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Organisation Memorial und war Gründungsdirektor des Moskauer Zentrums für Menschenrechte Demos.
Alle diese Organisationen sind inzwischen unter dem Vorwand verboten oder aufgelöst, als NGOs unter das Gesetz „Ausländische Agenten“ zu fallen.
Dem russischen Historiker blieb nur die Chance, das Land für dessen demokratischen Wandel er so intensiv und leidenschaftlich gekämpft hatte, via Usbekistan zu verlassen und seine wissenschaftliche und publizistische Arbeit von Berlin aus fortzusetzen.
Seit 2023 ist er „Chefredakteur des noch jungen RADIO SACHAROW, das mit dem Recherchezentrum CORRECTIV als russischsprachiges Exilmedium von Berlin aus online geht. Die Internetradio- und Podcast Plattform wendet sich „an alle, die an den Wert intellektueller Freiheit glauben.“
Der Name Sacharow ist dabei sicher Programm, denn in Russland gilt der „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“ als Mensch, der sich vom vielfach ausgezeichneten systemtreuen sowjetischen Wissenschaftler zum Dissidenten entwickelte und dabei zunehmend als Beispiel des mündigen und verantwortungsvoll Hinterfragenden und dem Gewissen verpflichteten Bürgers entweder geachtet und verehrt oder gefürchtet und aus der Verantwortung verbannt wurde. Aus der aufkommenden Skepsis gegen den Rüstungswettlauf wuchs sein Einsatz für Menschenrechte und die Freiheit des Denkens. Er wurde zum wichtigsten Regimekritiker unter den sowjetischen Intellektuellen. Mit seinen Reflexionen über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit machte er sich zum Staatsfeind der Sowjetdiktatur. Gleichzeitig wurde er zum prominenten Hoffnungsträger demokratischer Bestrebungen. Seine Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis 1975 durfte er schon nicht mehr persönlich entgegennehmen. Er wurde durch seine Frau Jelena Bonner vertreten, die 1996 - sieben Jahre nach Sacharows Tod ein „gesellschaftliche Zentrum für Frieden, Fortschritt und Menschenrechte“ gründete: das Музей и общественный центр им. Андрея Сахарова.

Sergej Lukaschewski wurde zu dessen Vorsitzendem gewählt und führte dieses die Botschaften und Ideen Sacharows bewahrende und weiterführende Museum durch den politischen und juristischen Gegenwind der die Perestroika und Glasnost-Hoffnung enttäuschenden Putin-Ära. Das Erbe des unter Michail Gorbatschow rehabilitierten Menschenrechtlers Andrej Sacharow als Auftrag zu verstehen, schien für den nominierten Menschenrechtspreisträger zur Lebensaufgabe geworden zu sein. Im Sommer 2023 wurde das Museum durch die russische Justiz aufgelöst.

Lukaschewski war intensiv in der unter Gorbatschows Perestroika wiederbelebten Helsinki-Gruppe Московская Хельсинкская группа engagiert, einer Menschenrechtsorganisation, die 1976 in Sacharows Wohnung von Jelena Bonner gegründet wurde und zum Ziel hatte, der unterzeichneten Schlussakte der in  der finnischen Hauptstadt 1975 durchgeführten KSZE-Konferenz (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) auch in der Sowjetunion zum Leben zu verhelfen, um zumindest Teile der beschlossenen friedlichen Koexistenz und der vereinbarten Grun drechte durchzusetzen. Die Bedeutung des kurz „HELSINKI“ genannten Dokuments ist heute vielen an demokratische Selbstverständlichkeiten gewöhnten Menschen kaum zu vermitteln. Den im Osten sozialisierten und „eingemauerten“ Menschen war allerdings diese auch von Breshnew und Honecker unterschriebene Absichtserklärung die - teilweise vergeblich - erhoffte Hilfe in ihrem Ringen um ebenso selbstverständliche wie vorenthaltene Freiheiten. In Putins Russland sind sie inzwischen fast gänzlich wieder verschwunden. Insofern ist auch die Wiederbelebung dieser Gruppe eine Besinnung auf andernorts Erreichtes und zum Kampf um Freiheit Ermunterndes.

Auch in Deutschland wird Sergej Lukaschewski nicht müde, sich für die Menschenrechte in Russland und für ein Ende des verheerenden Krieges in der Ukraine einzusetzen.
Ein Interview, das er im Mai 2022 - nur 3 Monate nach dem Überfall Putins auf die Ukraine - dem ZENTRUM LIBERALE MODERNE* gibt, ist überschrieben: Schuldlos schuldig: Zur Lage der russischen Demokraten.

Auf die Frage, was er als Russe angesichts des Angriffskrieges auf die Ukraine fühle, klingt die Antwort verzweifelt:

Konzertankündigung zum Menschenrechts-Konzert

„Es ist einfach wahnsinnig schwer zu begreifen, dass sich solche Schrecken wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hat, wiederholen. Es geht mir einfach nicht aus dem Sinn, manchmal scheint es mir, dass mein Kopf platzt. Ich denke oft über mein persönliches Schicksal nach. Ich habe dieses Regime ja nie unterstützt und mein Leben lang in Organisationen gearbeitet, die für ganz andere Werte einstehen. In den letzten Jahren war mein Arbeitgeber als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt.
Und doch trage ich Verantwortung für das was passiert. Und jedesmal frage ich mich – was könnte ich jetzt den Ukrainern sagen? Ich weiß es einfach nicht, weil alle Worte, alle Bitten nach Vergebung wertlos sind im Vergleich zu dem Leid der Menschen.
Und wie kann man jemals wieder irgendeinen Dialog mit den Ukrainern beginnen? Wie können wir diese schreckliche Erfahrung begreifen und intellektuell durchleben? Das ist derzeit einfach überhaupt nicht vorstellbar“.

Nach den Folgen des Exodus von so vielen liberalen Geistern auf Russland haben klingt er etwas optimistischer:

„…man kann vielleicht auch sagen, dass sich die Geschichte heute schneller entwickelt und dass vielleicht der jetzige eiserne Vorhang nicht so lange hält wie der des 20. Jahrhunderts. Und vielleicht können die, die jetzt gegangen sind, bald in ein freies Russland zurückkehren
… Das wird kurzfristig negative Folgen für die Zivilgesellschaft haben, weil vor allem diejenigen das Land verlassen haben, die gewöhnlich öffentlich ihre Meinung gesagt haben, etwa in sozialen Medien. Das zu tun ist einfach zu riskant geworden…
Was langfristig wird, ist schwer zu sagen. … Aber ich bin ein historischer Optimist. Die russische Tradition freiheitlichen Denkens hat sich jedes Mal erneuert – selbst nach den schlimmsten Repressionen: Sowohl nach der Herrschaft von Zar Nikolaus I. Mitte des 19. Jahrhunderts als auch im 20. Jahrhundert nach den Schrecken der Revolution und der stalinistischen Repressionen.
In Russland haben Freiheit und Liberalismus zwar eine sehr schwache politische Tradition und Versuche, eine solche Tradition zu begründen sind regelmäßig gescheitert. Aber Russland hat eben auch eine starke Tradition freien Denkens, die sich regelmäßig erneuert, weil neue Leute die alten Texte lesen.“

Man kann Ádám Fischer zur Auszeichnung Sergej Lukaschewskis nur herzlich dankend beglückwünschen. Der Chefdirigent der Düsseldorfer Symphoniker bewahrt die künstlerischen Zeugnisse der vom Preisträger beschworenen „starken und sich erneuernden Tradition freien Denkens“ vor dem Verschwinden im Sumpf des Vergessens, in dem nach Meinung blinder Eiferer völlig undifferenziert alles entsorgt werden soll, was russisch ist. Dem guten Russland, den mutigen Intellektuellen, den das große Erbe bewahrenden und erneuernden Künstlern, den so viel wagenden Menschen muss die Stimme und die Perspektive ihrer Phantasie erhalten bleiben. Und dafür kämpft Sergej Lukaschewski, und auch dafür erhält er den verdienten Beifall – auch jenen des Chorpodiums.

* Liberale Moderne

Das Zentrum Liberale Moderne ist ein deutscher Thinktank, der 2017 von den Grünen-PolitikerInnen Marieluise Beck und Ralf Fücks gegründet

Text: Dr. Karl-Hans Möller - Musikverein am 19.1.2024

(Beitragsbild: Sergej Lukaschewski (Photo credit Masha Kushnir)