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Schumannfest 2023: Zur Uraufführung von Christoph Ritters „…how could we dare…“

Zur Uraufführung von Christoph Ritters „…how could we dare…“ – Vorwurf oder Frage?

Neue Musik hat es schwer. In den Konzertsälen bleiben viele Plätze unbesetzt. Die traditionellen Konzertbesucher scheuen die Konfrontation mit ungewohnten Klangerlebnissen, denen sie unvorbereitet ausgesetzt sind. Der Weg über die Popularisierung sangbarer oder spielbare Melodien und Motive, durch die sich die Werke der Avantgarde verbreiten könnten, ist verstellt, weil es eben in den meisten Fällen nichts leicht Fassbares oder Gefälliges zu reproduzieren gibt. Die Kunstkritik vollzieht sich auf der akademischen Ebene, ordnet das Werk als Ganzes musikgeschichtlich ein und misst es mit ästhetischen Maßstäben der Musikwissenschaft. Der Chor aber probt wochenlang und rezipiert die Texte der Chorsätze unzählige Male. Dadurch setzt eine Auseinandersetzung mit dem gesungenen Wort, um zu verstehen, womit man zweimal wöchentlich im Probensaal ringt.

You have stolen my dreams and my childhood with your empty words. And yet I‘m one of the lucky ones. People are suffering. People are dying. Entire ecosystems are collapsing. We are in the beginning of a mass extinction, and all you can talk about is money and fairy tales of eternal economic growth. How dare you!“

Greta Thunberg 2019

Christoph Ritters „How could we dare?“ war noch im Druck, als wir mit fotokopierten Einzelseiten mit dem Projekt begannen. Das Stück vollendete sich - so hatten wir den Eindruck - mit unserem Probenfortschritt. Ein Deutungsversuch dessen, was wir zum Klingen bringen wollen, legen wir hier vor. Er ist unvollständig, weil uns in der Konzertvorbereitungsphase weitere Texte bekannt wurden, die sich einer reibungslosen Eingliederung in das bisher Gedachte noch widersetzen. 

„Was ist das.-Was-ist das …“

„Je, den Dübel ook, c´est la question.“

Mit dieser offensten aller Fragen,

  • die Martin Luther an jeden einzelnen Glaubensgrundsatz des Christentums richtete und in seinem Katechismus beantwortet,
  • die Thomas Mann an den Anfang der „Buddenbrooks“ stellte und damit gleichsam dem Leser in den Mund legte, um nach 600 Seiten lakonisch zu antworten: „Es ist so!“,

mit dieser Frage also nähern wir uns Christoph Ritters Komposition, der wir wochenlang in unzähligen Chorproben musikalisch gerecht zu werden versuchen.

Schon der englische Titel irritiert: „…How could we dare…“. Zitiert er doch ein rhetorisches Vorbild. 2019 richtete sich Greta Thunberg, die schwedische Klimaaktivistin und Initiatorin der „fridays vor future“ Bewegung in eine Rede unter dem Titel „How dare you“ an die versammelten Politiker auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen.

Besteht ein Zusammenhang zwischen Greta Thunbergs Rede und Christoph Ritters Kantate?

Ist der kaum merkliche Wechsel des Personalpronomens von „you“ zu „we“, sowie die Veränderung der Modalität durch „could“ bedeutungsvoll, absichtsvoll?

Gretas Rede klagt die Mächtigen an, den Temperaturanstieg auf der Erde nicht wirksam zu verhindern. Sie fordert von denen, die durch Zögern und Nichtstun die Zukunft der Menschheit aufs Spiel setzen, das Recht ihrer Generation auf ein Leben auf diesem Planeten ein. Sie spricht leidenschaftlich und öffentlich; sie folgt ihrem Gewissen und fürchtet den Spott nicht, dem sie ausgesetzt ist. Sie steht als Mahnerin und Anklägerin in der Tradition eines Jeremias, der sich nach Sodom und Gomorrha begab, um die Menschen von ihrem verhängnisvollen Irrweg abzubringen. Jeremia zählt zu den großen Propheten des Alten Testamentes. Greta Thunberg prangert einen Missstand an und sagt seine Folgen in der Zukunft vorher. Damit handelt sie ebenso prophetisch. Beide sind allein. Eine Gefolgschaft bildet sich, wenn überhaupt, erst im Anschluss an ihr Auftreten.

Damit ist eine erste Brücke zu Ritters Komposition geschlagen, die wir jetzt als Antwort auf eine Prophetie verstehen können. Das Werk beginnt mit der Vision im letzten prophetischen Buch der Bibel. Hier beschwört der Seher, dem die Überlieferung den Namen „Johannes“ gegeben hat, den Neuanfang der Welt, in der es keine Traurigkeit, kein Leid und keine Qualen mehr gibt. „Jetzt mache ich alles neu“ lautet Gottes Programm.

Noch ist es aber nicht so weit. In Psalm 130 rufen die Menschen in ihrer Verlassenheit in höchster Not nach Rettung. Am Kreuz verzweifelt der Sohn Gottes über das Schweigen des Vaters. In den Versen, die Ritter aus Psalm 22 gewählt hat, besinnt sich der Sänger jedoch auf die Heilszusage Gottes in größter Verlassenheit. Dieses Heil soll den Menschen aber anders zu Teil werden als durch ein konkretes Eingreifen Gottes in die Geschicke der Welt. Ritter verspricht keinen „Deus ex machina“, der uns vor dem Ersticken an CO2 errettet. Stattdessen zitiert er den Kirchenlehrer Ephraim, der im 4 Jhdt, also vor der Kirchenspaltung im antiken Edessa, dem heute syrisch -türkischen Grenzgebiet lebte und lehrte. Er strebte danach, theologische Einsichten in die praktische Lebensgestaltung umzusetzen. Ephraim bittet Gott, ihn vor Verzagtheit, Herrschsucht und Geschwätzigkeit zu bewahren und stattdessen mit Besonnenheit, Demut, Geduld und Liebe zu beschenken. Seine eigenen Fehltritte zu vermeiden ist ihm wichtiger als die Schwächen seines Bruders zu verurteilen. Ritter stellt die Mahnerin Greta dem visionären Menschen gegenüber, der sich auf sich selbst besinnt und durch entschlossenes Handeln im Vertrauen auf die von Gott verliehene Stärke die Verhältnisse ändern will.

Am Ende wird der Bogen zum Anfang gespannt. Nach dem Lobpreis des Herrn aus dem „Khaddisch“ klingt die Kantate mit dem Trost aus, dass dem leidenden Menschen personifiziert in Lazarus das himmlische Jerusalem zuteilwird.

How could we dare? Was ist das?

Es ist die Antwort einer universalen Theologie auf die Anklage der leidenschaftlichen Greta an die gleichgültigen Mächtigen, die sich auf Traditionen des Judentums und der westlichen und östlichen Kirche beruft. Ritter formuliert den zum Schlagwort gewordenen Aufschrei Gretas behutsam um.

Aus: „Wie könnt Ihr es wagen?“ – „Was erlaubt Ihr Euch?“ wird „Wie können wir es riskieren?“ – „In welcher Form können wir uns trauen?“ Jeder Einzelne trägt Verantwortung für das Diesseits und muss seinen Beitrag zu dessen Bewahrung leisten; Christen und Juden aber werden getragen von einer Verheißung, die über dieses Diesseits hinausweist.

CHRISTOPH RITTER

Der aus Wuppertal stammende Komponist, Organist und Chorleiter Christoph Ritter legt in seinem Schaffen einen besonderen Fokus auf die Chor-musik. Er war Träger des Kompositionsstipendiums der Stadt Düsseldorf 2021/22 und erhielt Kompositions-aufträge u. a. vom Kinderchor der Staatsoper Berlin, der Robert-Schumann-Hochschule Düs-seldorf, dem Chor der Wuppertaler Bühnen, dem Jungen Consortium Berlin und dem ART Ensemble NRW. Nach lang-jähriger Assistenztätigkeit an der Innenstadtgemeinde St. Antonius in Wuppertal-Barmen ist Christoph Ritter seit März 2013 Seelsorgebereichsmusiker für das Gebiet Düsseldorf Eller/Lierenfeld.

(Beitragsbild: Dennis Hansel-Dinar (L) und Mark-Andreas Schlingensiepen (M) im Proben-Gespräch mit Christoph Ritter (R) - Photo credit: Georg Lauer)