Der Städtische Musikverein zu Düsseldorf steht vor zwei Uraufführungen am 10. Juni. Die beiden jungen Komponisten, Laura Marconi und Christoph Ritter beleuchten das gleiche Thema aus zwei unterschiedlichen Perspektiven.
Der alte und der neue OTON
Plakativ stellt die Intendanz der Tonhalle Düsseldorf das mit dem Schumannfest 2023 in diesen Tagen zu Ende gehende Konzertjahr in ihrer Programmvorschau OTON unter das Motto „DIE RETTUNG“. Die dem Konzertkalender vorangestellten Essays widmen sich Themen wie Klimawandel, Bevölkerungswachstum, Umweltschutz verbunden mit der Frage „Was rettet uns?“
–hen Musikvereins unter Leitung von Mark-Andreas Schlingensiepen und Dennis Hansel-Dinar zur Uraufführung. Felix Mendelssohn Bartholdys geistliche Hymne „Hör mein Bitten“ eröffnet den Konzertabend.
Zum Besuch lädt der Veranstalter sein Publikum mit der Zusicherung ein, „ein Konzerthaus könne sich nicht glaubwürdiger den brennenden Fragen der Gegenwart stellen als mit der Aufführung von Musik, die aus genau dieser Gegenwart geboren ist!“
Ist damit zugleich auch die Frage beantwortet, ob Kunst die Welt retten kann?
ALTROVE
Wie Laura Marconi mit ihrer Komposition „ALTROVE“ (die andere Welt) ihre Klangvorstellung eines Meeres zwischen ruhigster Oberfläche und gewaltigter Tiefe umsetzt und deren Tier- und Pflanzenvorkommnisse in ihrem 9-sätzigen Werk charkterisiert, hat Karl-Hans Möller in seinem Beitrag „Abtauchen in die Anderswelt“ bereits beschrieben, nachzusehen und zu lesen auf der Homepage des Musikvereins. Die zum Einsatz kommenden klassischen Streich- und Holzblasinstrumente kombiniert mit auf dem Konzertpodium eher selten anzutreffenden Instrumenten wie Akkordeon oder Saxophon, Celesta oder Marimbaphon und - man höre und staune - Waterphone geben die kleinen, mittleren und großen Wellen des Meeres eindrucks voll wieder, insbesondere, wenn ihnen durch leicht „artfremdes“ Klopfen und Blasen durchaus bekannte wassernahe Geräusche entlockt werden. Bei ihrem Tauchgang begegnet die Komponistin Schiffbrüchigen und Planktron, Sardellen und Meeressäugern. Auf dem Grund angekommen trifft sie auf ein Schiffswrack und richtet ihren Blick zurück zum Nachthimmel.
In ihrem eigenen Einführungstext zu ihrer Komposition weist Laura Marconi gerade auf diesen Schluss ihres Stückes hin, in dem sie die italienische Lyrikerin und Journalistin Lucia Brandoli zitiert, die daran erinnert, dass „die Rettung des Planeten in erster Linie unsere eigene ist, ein extremer Akt des Überlebens, denn wir sind die einzigen Lebewesen auf der Erde, die wünschen.“
Der Chor rezitiert und singt „Nessuna stella desidera. Ma noi.“, kein Stern begehrt auf, wünscht sich etwas, nur wir (Menschen)! Mit leisen Akkordwiederholungen des Klaviers ebbt das eindrucksvolle Hörstück leise aus.
„... how could we dare ...“
Der Komponist Christoph Ritter findet zur Umsetzung seines Tonhallenauftrages einen anderen, eher persönlichen Ansatz, wenn er an Überwindung von Klimakrise oder Krieg denkt, und von Visionen und Ideen zur Rettung und von Katastrophen spricht, die er als Nichtrettung bezeichnet.
Seine Komposition zitiert im Prolog zunächst aus dem Psalm 121 die Frage des nach Rettung bei Gott suchenden Menschen:
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?“
Ob der unmittelbar folgende Text aus der Offenbarung des Johannes
„Und ich sah die heilige Stadt - das neue Jerusalem - von Gott aus dem Himmel herankommen - bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann“
vorgetragen von Chor und Solistin für den Hörer eine Antwort bereit hält, bleibt offen. Zeit, der Frage nachzugehen, bleibt ihm ohnehin nicht, denn ein Sprecher konfrontiert seine Hörerschaft mit weiteren bekannten Zitaten, zunächst mit Martin Luther Kings berühmter Rede „I have a dream“ sowie der Replik Friedrich Nietzsches:
„Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelicatesse gegen uns Denker –, im Grunde sogar bloss ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!“
Mit dem - seinem Freund und Dirigenten Stefan Rauch gewidmeten Satz 1 - greift Christoph Ritter abermals Psalmtexte auf, zunächst aus Psalm 130 die Zeilen: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens.“ und - quasi im gleichen Atemzug - Verse aus Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels.“
Welche Wirkung haben solche Zeilen der Selbstanklage wie der gottvertrauenden Zuversicht? Beim Hörer, Leser, Autor?
Ebenso überraschend wie offenbarend beginnt der aus Wuppertal stammende Komponist den Satz 2 seines Werkes, mit „Du, ich liebe Dich grenzenlos!“. Er widmet ihn seiner Partnerin Vera und zitiert in ganzer Länge das Gedicht „Ἀϑάνατοι (Athánatoi) - Die Unsterblichen“, das die in Wuppertal geborene und Jerusalem 1945 verstorbene Else Laker-Schüler in ihrer Lyriksammlung „Styx“ veröffentlichte.
Neuer und aktueller Lyrik gilt im dritten Satz („für die Katastrophenopfer“) die Zuflucht zu Zeilen von Lina Atfah, der 1989 in Syrien geborenen und seit 2014 in Wanne-Eickel lebenden Schrifstellerin, die sie - auf Deutsch und Arabisch - in Ihrer Publikation „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ veröffentlicht hat:
– Was macht die Sprache?
Sie gibt dir einen Spiegel, damit du in großer Stille deine Einsamkeit betrachten kannst
...
– Was soll ich lesen?
Lies das Verborgene
– Warum sterben die Dichter?
– Damit sie die Unsterblichkeit ihrer Namen auf den Prüfstand stellen
– Warum sterben die Tyrannen?
– Damit die Völker leben
(Anm.: Bitte lesen Sie den vollständigen Text im Programmheft der Tonhalle! Das weitere Nachdenken über diese Zeilen bleibt Ihnen überlassen! Und wenn Sie bei YouTube das Video finden: Lina Atfah liest „Das Buch von der fehlenden Ankunft“, werden Sie beeindruckt sein von der Ausdruckkraft und sprachlichen Intensität, mit der die Autorin ihre Verse in ihrer Muttersprache Arabisch - ergänzt mit deutschen Untertiteln - vorträgt.)
Den Satz 4 widmet Christoph Ritter seinen Kindern Laurean und Elisa. Der Chor singt hier das in orthodoxer Tradition stehende Gebet des Ephraim. Auf der Basis der dem Chor während der ersten Proben vorliegenden Noten bzw. Texte ist Udo Kasprowicz in seinem Essay Zur Uraufführung von Christoph Ritters „…how could we dare…“ – Vorwurf oder Frage? - nachzusehen und zu lesen auch auf der Musikvereinshompage - auf Quelle und Bedeutung des Ephraim-Gebetes eingegangen, vor allem aber auf Greta Thunbergs How-dare-you-Rede, die der Komposition den Titel gab.
Im Satz 5 nun - unter der Widmung „für die Katastrophenopfer“ - lässt Christoph Ritter den Sprecher des Stücks wieder zu Wort kommen, der - vom Ensemble begleitet - aus Greta Thunberg bekanntester Rede auf dem UN-Klimagipfel 2019 zitiert. Diese ebenfalls bei YouTube zu verfolgende, die Politiker anklagende „Wutrede“ ist in ihrem Stil und Vortrag ähnlich beeindruckend wie die Lina Atfahs.
Den Schluss-Satz 6 seines Werkes widmet der Komponist seinem verstorbenen Vater Konrad Ritter. Wie in vielen früheren Kompositionen greift er hier auf einen lateinischen Text zurück und vertont die Lukas-Verse 16,19:
„In paradisum deducant te angeli ...“, mögen dich die Engel ins Paradies begleiten, mögen die Märtyrer dir entgegen kommen....
Diese Passagen unterbricht die Sopranistin mit dem jüdischen„Kaddisch“, dem Gebet zum Totengedenken:
Erhoben und geheiligt werde sein großer Name. Auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde – sein Reich soll in eurem Leben in den eurigen Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in nächster Zeit erstehen.
Und wir sprechen: Amen!
während der Chor das Werk mit
„...et perducant te in civitatem sanctam, Jerusalem“ zu Ende bringt.
Im Rückblick auf den Kompositionsauftrag der Tonhalle, der unter dem Thema „Rettung“ erteilt wurde, fasst Christoph Ritter seine Idee von der Umsetzung so zusammen:
Mein Stück versucht, verschiedene Ideen von Rettung, religiös oder nicht-religiös, aber auch von Nicht-Rettung oder der Katastrophe nebeneinander zu stellen. In diesem Sinne habe ich Greta’s Rede benutzt, da ich ich sie als extrem eindringlich empfinde und es kaum einen Text gibt, der derart plakativ, Scheitern auf den Punkt bringt.
Bei aller Skepsis im Vorfeld für ein gelingendes Zusammenwachsen mit dem in neuer Musik seit 40 Jahren unter der Anleitung seines Gründers Mark-Andreas Schlingensiepen geschulten Notabu.ensembles ist der Musikvereinschor gerade in den letzten beiden Wochen im Zusammenführen der Musik mit den Instrumentalisten zu der Überzeugung gelangt, dass zeitgenössische Musik eine Bereicherung des musikalischen Horizontes darstellt, wenn die Beteiligten - wie erlebt - in den Proben zu den Uraufführungskompositionen „Altrove“ und „How could we dare“ behutsam in diese zuerst fremde Musik eingeführt werden.
Da bedarf es eigentlich beim Konzert zum Auftakt auch keines „klassischen“ Einführungsstückes aus der Feder Mendelssohns, aber passender als mit seinem Hymnus „Hör mein Bitten“ kann ein solcher Konzertabend nicht beginnen. Weitere Antworten finden Sie im neuen OTON 2023-2024.
Beitrag von Georg Lauer am 10.6.2023
(Beitragsbild: Programmvorschau der Tonhalle)