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Schumannfest 2023: Abtauchen in die Anderswelt

Abtauchen in die Anderswelt – zur Uraufführung von Laura Marconis Reise in die Tiefe

Laura Marconi, die Komponistin eines der beiden zum Düsseldorfer Schumannfest 2023 zur Uraufführung kommenden Werke hat dessen ersten Interpreten –  dem von Mark-Andreas Schlingensiepen geleiteten Ensemble notabu und dem Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf –  durch einen einleitenden Aufsatz vorab einen Einblick in ihre musikalischen Intentionen geschenkt, die durch das intensive Beschäftigen mit jenem Element bestimmt sind, in das ihre stiefelförmige Heimat eintaucht. Die Apennin-Halbinsel ist zum großen Teil von jener „Anderswelt“ aus Meerwasser umgeben, deren italienische Bezeichnung sie zum Titel ihrer Kreation „für Chor und Ensemble“ gewählt hat:

 ALTROVE.

Es gibt viel zu entdecken in einer uns – den Menschen – noch weitgehend verschlossenen und daher fremden, geheimnisvollen und unheimlichen Welt, deren Tiefe schwer vorstellbar ist. Laura Marconi stellt der Beschäftigung mit ihrer Partitur selbst das nachfolgende Casati- Zitat als eine Art Präambel voran, um die Musiker- und SängerInnen einzuladen, mit ihr eine Reise in die Tiefe zu wagen und eigene Ideen und Phantasien mit jenen zu verbinden, die durch das Musikerleben neu entstehen, wachsen, sich verändern oder zum Staunen verführen. Sie verspricht in dem Impuls gebenden Text eine Reise in den „Raum einer grenzenlosen Freiheit“, zu deren Begleitung sie einlädt.

„Das Meer hat eine unbestimmte, wechselnde Farbe. Sie ist geruchlos, sie ist farblos, sie ist ständig in Bewegung, alles ist in ständiger Veränderung. Sie hat majestätische Wellen, flüssige Hügel, plötzliche Strömungen. Es ist eine paradoxe Oberfläche, die gleichzeitig Behälter und Inhalt ist. Es handelt sich nicht um einen Landeplatz, sondern um einen Durchgang. Das Meer ist der fremde Planet, der an uns klebt, es ist die Anderswelt (altrove) schlechthin“

Roberto Casati

Laura Marconi hat ihr klingendes Abenteuerbuch in Kapitel unterteilt, in denen die einzelnen Etappen der Reise beschrieben werden:

  1. Liquid Hills
  2. Low Tide, Cicadas
  3. Castaway ́s Tune (the Dive)
  4. Epipelagic (Sunlight) Zone: Anchovies
  5. Mesopelagic (Twilight) Zone: the Singing Giant
  6. Bathypelagic (Midnight) Zone: Citizens of the Depths
  7. Abyss: Alien Geometry
  8. Rio Grande Wreckage
  9. Upside Down: Night Sky

Es ist ein TAUCHGANG IN EINE MUSIKALISCHE MEERES-PHANTASIE, der zunächst jene (wasser)oberflächlichen Beobachtungen und Wahrnehmungen spiegelt, die vielleicht jeder mit eigenen Erfahrungen anzureichern oder zu vergleichen vermag. Aber die Komponistin erwartet die Begegnung mit „altrove“, dem Unbekannten, Abenteuerlichen in der „Anderswelt“ und verlangt deshalb ein immer tieferes Eintauchen ins Meer und in das musikalische Nachempfinden vertikal strukturierter Begegnungen, die sich von realer Erfahrung in Phantasie wandeln.

Wir, die Sängerinnen und Sänger des Konzertchores, haben uns sehr neugierig und erwartungsvoll dieser exklusiven Tauchergruppe angeschlossen und bewegen uns aus den Wellenhügeln durch Sardinenschwärme über die Begegnung mit den singenden Wal-Giganten bis in die Tiefsee, die aus einem gesunkenen Kriegswrack die Sehnsuchtsmelodie Ertrunkener akustisch freigibt. Laura Marconi begründet das Zitat aus „Lily Marleen“ mit ihrer Erfahrung, dass die Durchhalteschnulze der Wehrmacht von ihrer sizilianischen Mutter in der Annahme, ein Antikriegslied der Partisanen zu sein, gesungen wurde. Jene Umwidmung zeigt, dass selbst der Tod in den tiefsten Tiefen des Meeres als einziges Zeugnis dortiger Anwesenheit von menschlichen Hüllen zutiefst menschliche Erinnerung an den Schrecken warnend aufsteigen lässt.Nicht alle Zonen des Abenteuers können wir als Chor singend durchtauchen, aber es als Teil der Entdecker zu erleben war bisher schon spannend und vielversprechend.

Unsere „Reise-Guides“, Prof. Dennis Hansel Dinar und Constanze Pitz haben die „Wegweiser“ in der Partitur (zum Beispiel eine waagerechte Hand mit taktlangen Armen als Zeichen des WahWahEffekts) in außergewöhnliche Klangfarben übersetzt und durch engen Kontakt mit der Komponistin deren Intentionen nachgespürt.

Oftmals ging es zunächst nicht um die Töne und den Rhythmus an sich, sondern um eine Atmosphäre, die akustisch zu bedienen und deshalb vorab zu entdecken war. Wir haben von der ersten Probe an gemerkt, dass das Umsetzen der in Noten eingefangenen akustischen Bilder nicht in gewohnter Weise trainiert werden konnte und sind überzeugt, dass trotz der sehr sensiblen Klavierbegleitung unserer Repetitorinnen erst durch die Begegnung mit den Instrumentalisten die Zeit der großen Überraschungen enden wird! Laura Marconi sagte uns, dass „sie für Sänger wie für das Orchester schreibt und für die Musiker wie für Sänger“.

Nach einem Lob für den Stand der Vorbereitung der musikalischen Parts des Chores sagte die Komponistin den uns zunächst irritierenden Satz: „Es fehlt noch sehr viel, fast alles“, um dann zu relativieren, dass die chorischen Aufgaben erst mit den instrumentalen kommunizieren, und dass demzufolge das gemeinsame Singen und Musizieren ein überraschendes Erlebnis für alle sein wird.

Vieles davon haben wir im interessanten Probenprozess entdeckt und erkannt, aber dennoch sehen wir der völlig anderen Atmosphäre, die durch das Zusammenfinden von menschlicher Stimme und Orchesterklang entstehen soll, mit Spannung entgegen. Unser Chef versprach uns zum Beispiel, dass bei der Tonfolge „The First Dive“ unsere Versuche, eine Unterwassersituation zu singen durch überraschende und außergewöhnliche Horn-Mundstück-Effekte gestützt wird …

… Es ist keine Effekthascherei, die Laura Marconi antreibt. Ihr ist sehr daran gelegen, dass die Entdeckungsreise in die Weite und in die Tiefe der Meere klanglich nachvollziehbar ist und dass das Singen, Summen, Knistern oder Glissandieren als jeweilige Attitüde oder Hörimpuls für Wuseln, Schwimmen, Tauchen, Gleiten, Schwärmen, Jagen … verstanden werden kann.

Man singt und versinkt also mit den Fischen und dem Leben im Meer – und das hat seinen Sound, so wie ihn Laura Marconi zum Erkennen, Phantasieren oder Empfinden vorschlägt: Zunächst uns – den Uraufführenden – und dann einem neugierigen und hoffentlich beeindruckten oder begeisterten Publikum.

Atmosphäre ist in diesem Werk sehr wichtig, aber sie ist die Grundlage dessen, was als Gedanke, als Assoziation, als Hoffnung oder als Erwartung in Worte gefasst ist.

Laura Marconi bekennt, dass sie ihre Texte in zwei Gedichtbänden von Lucia Brandoli gefunden hat, und dass „Altrove negli occhi:/ io sono madre così” (anderswo in den Augen: So bin ich Mutter) nicht nur dem Werk den Titel gab. In diesen wenigen Worten sei „auf unglaubliche und zufällige Weise die ganze Bedeutung (ihrer) musikalischen Reise durch die Tiefen des Ozeans zusammen(ge)fasst“.

Laura Marconi überlässt der Lyrikerin den Impuls zum Nachdenken über die mögliche mahnende Botschaft gegen den auf die Unterjochung der Erde gerichteten rücksichtslosen Egoismus:

Das Stück schließt mit dem Satz „Nessuna stella desidera. Ma noi.” (Kein Stern begehrt auf, nur wir) von Lucia Brandoli, um uns daran zu erinnern, dass die Rettung des Planeten in erster Linie unsere eigene ist, ein extremer Akt des Überlebens, denn wir sind die einzigen Lebewesen auf der Erde, die wünschen.  

Ob wir alle bereit sind, der Hoffnung der Komponistin zu folgen, wie Roberto Casati „eine neue Philosophie des Meeres“ zu denken, bleibt offen. Aber alle, die „Altrove“ erleben, werden wissen, dass die „Anderswelt“ und ihre Bewohner bei Gefahr unseres Untergangs im wahrsten Sinne des Wortes schützens- und bewahrenswert sind .

LAURA MARCONI

Die 1989 in Turin geborene Künstlerin hat am Giuseppe Verdi- Conservatorium in der piemontesischen Hauptstadt Komposition studiert und nach dem Masterdiplom an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf 2021 ihren Master of Music in Chorleitung erworben. Als Komponistin hat sie sehr erfolgreich an zahlreichen Wettbewerben und Festivals moderner Musik teilgenommen.

Im Frühjahr dieses Jahres erhielt sie ein Stipendium an der Bogliasco American Foundation und konnte in der sehr anregenden Umgebung der an der ligurischen Küste gelegenen Villa die Pini ihre jüngste Komposition auf die Uraufführung vorbereiten. „ALTROVE“ ist auch der Name eines italienischen Kulturvereins in Düsseldorf, dessen Chor Laura Marconi leitet.

Eine Vorstellung der Komponistin durch die Internet-Plattform „soundcloud.com“ stellt sie Künstlerin vor, deren Art des Musikerschaffens wir uns inzwischen sehr angenähert haben:

In Lauras Musik geht es manchmal um die Beziehung zwischen Ruhe und Klängen mit zarten harmonischen Wechseln in meditativer Atmosphäre; manchmal um kraftvolle und dramatische innere Kämpfe, in denen die Farben und Gesten lebendig und die Gegensätze brutaler werden. Sie sucht immer nach Verbindungen zwischen unterschiedlichen Kunstformen, wie Dichtung, Malerei und Musik. Sie nutzt oft die Improvisation und eine ungewöhnliche (traditionsferne) Notationen in ihren Partituren, um mehr Freiheit und Herausforderungen für die Interpreten und das Publikum zu ermöglichen.

Beitrag von Karl-Hans Möller am 6.6.2023

(Beitragsbild: Laura Marconi bei der Probe ihres Werks - Photo credit: Georg Lauer)